This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the file s We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these flies for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't off er guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at http : //books . google . com/|
Digitized by
Google
Digitized by
Google
DESCARTES' ENTWICKLUNG
IN DER
ERKLÄRUNG DER TIERISCHEN
LEBENSERSCHEINUNGEN
DISSERTATION
zur Erlangung der Doktorwürde
bei der philosophischen Fakultät
der Grossherzoglich Hessischen Ludwigs-Universität
zu Giessen
eingereicht von
W1LH. A. J. MEYER
aus Menden (Kr. Iserlohn).
Giessen 1907
▼. Münchow'sche Hof- u. Univ. -Druckerei (O. Kindt) Giessen.
Digitized by
Google
Genehmigt durch das Prüfungskollegium
am 12. X. 1906
Referent: Geh. Hof-R. Prof. Dr. Sieb eck.
* j
Digitized by
Google
Y
Inhaltsverzeichnis.
Seite
I. Einleitende Bemerkungen 5
II. Descartes* Stellung von 1630 bis zum Winter 1645/46 19
1. Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier und die
machanistische Erklärung des tierischen Lebens im all-
gemeinen (1630 — 37) 19
2. Das tierische Empfinden (1637) 21
3. Die erste Auseinandersetzung mit der Scholastik (1637) 24
4. Die tierischen Affekte und Leidenschaften (1638) ... 26
5. Die tierischen Strebungen und Einbildungen (1639/40) . 28
6 Das tierische Gedächtnis (1640) 31
7. Die zweite Auseinandersetzung mit der Scholastik (1641/42) 41
III. Rück- und Ausblick 48
1. Kritik des gehobenen Materiales 48
2. Orientierung am Begriff cogitare 52
3. Orientierung in der sekundären Literatur. Vorläufiges
Ergebnis 60
IV. Die Fortbildung der Lehre Descartes* nach
Winter 1645/46 65
1. Die tiefere systematische Begründung desFundamental-
unterschiedes zwischen Mensch und Tier; die Zertrümme
rung der Vulgärpsychologie (1646) 65
2. Die positive Fortbildung der Lehre D.': Das tierische
Bewusstsein (1646) 69
3. Die Unbe weisbarkeit der Bewusstlosigkeit der Tiere ( 1649) 76
V. Schlussbemerkungen 84
Literaturverzeichnis .* 89
Lebenslauf 92
Digitized by
Google
Digitized by
Google
I. Einleitende Bemerkungen.
Wer die weiten Gefilde der Descartes-Literatur durch-
wandert, wird die Beobachtung machen, dag die Briefe Des-
cartes' herzlich wenig für die Ergänzung und die Erläuterung
feines Syftemes, wie es uns in feinen Hauptwerken vor-
liegt, ausgebeutet find; das Eingeftändnis Meinckes(l),
von den Briefen fei „nur gelegentlich die eine oder andere
Stelle" zitiert, könnten die meiften Autoren der fekundären
D.-Literatur fleh zu eigen machen.
Angeflchts der Tatfache, dag die Darfteller des D.fchen
Syftems fogar in Kernfragen auseinandergehen, dag felbft
ein und diefelbe Stelle feiner Werke nach den verfchie-
denften Richtungen hin interpretiert wird, kann man fleh
der Einfldit nicht verfihließen: Bitter not tut uns die Ver-
mehrung unleres Willens von D. nidit durch Kombination
und Hypothefe, fondern durch Subftanz und Sadien, und
es wäre traurig, wenn Stock (4) Recht hätte: „Das Ma-
terial über die Philofophie des D. fiheint ausreichend vor-
zuliegen; wenigftens wird etwas wefentlich Neues wohl
kaum beigebracht werden können."
Die Augerachtlaffung des Interpretationsgefefees autor
ex autore bei D. mug auf den erften Blick umfomehr be-
fremden, als fihon Clerfellier, der Freund D.' und
erfte Herausgeber feiner Briefe, 1657 auf die hervor-
ragende Wichtigkeit der Briefe für das D.fche Syftem
aufmerkfam gemacht hat. Er nennt fle (V, 628) einfache
Extrakte aus feinen Produktionen; faft jeder Brief behan-
dele verfihiedene von einander unabhängige Fragen (V,
Digitized by
Google
- 6 -
621), er rühmt die Stärke der Gründe und die Glätte des
Sinnes in ihnen (V, 622) und preilt die Stärke und Er-
habenheit des D.fthen Geiftes, die fleh hier in der wunder-
baren Lölung der fdiwierigften Fragen bemerkbar mache
(V, 619). „Und was den Leier nicht wenig überrafchen
wird, ift, dag die Erklärung lo groger Schwierigkeiten
nicht auf eine dogmatifihe Art gefihieht, nodi durch die
gewöhnlichen Formen der Beweile, londern in einem lo
leichten und glatten Stile, dag es fcheint, die Gedanken
flöffen ihm aus der Feder und fle wären ihm von f eiber
in den Sinn gekommen (V, 622)." 1653 nennt Lipftorf
die Briefe rerum philosophicarum plenissimas (I, XVIII);
Leg ran d plante eine neue Ausgabe und die Namen
der Sammler und Ordner der Briefe, La'Hire, Poirier
und Arbogaft beweif en, dag audi in den folgenden
Zeiten das Intereife für die Briefe D/ erhalten blieb, bis
endlich Coufin 1824—26 zu ihrer Neuausgabe in 5 Bän-
den fchritt. Aber auch jetjt blieb, trotjdem noch jüngft
Schaarldimidt (19) und Mondiamp (c. III, 7) auf die
Wichtigkeit der Briefe D.' zum Verftändnis feiner Philo-
fophie hinwiefen, ihre Verwendung auf das rein hiftorifche
G ebiet, Lebensgang des D., EntWickelung feiner Schule etc.
befihränkt. Stößt man ausnahmsweife bei der Syftematik
der Lehre D.' auf eine Briefftelle, fo dient fle mehr als
dekoratives Element, denn zur Konftruktion des Baues,
und fle ift faft immer eine der lieben alten Bekannten, die
fleh längft das Heimatsrecht erworben haben, Eine rühm-
liche Ausnahme macht Koch, der die Briefe in felbftän-
diger und ausreichender Weife für leine Monographie be-
nutzt hat.
Fragt man nach der Uriache diefer für den erften
Blick auffallenden Vernachläffigung der Briefe D.\ fo kann
diele nicht in den orthographifihen, grammatifihen und
ftiliftifchen Schwierigkeiten der Briefe liegen. Die fäiwan-
kende Orthographie D/, die Verwendung des Konjunktivs
Digitized by
Google
— 7 —
in Hauptfäfeen, leine Vorliebe für den acc. c. inf., der
intranfltive Gebrauch von imaginer, qüoique c. ind., der
kaulale Gebrauch von d'autantque, pourceque, die Ver-
wendung des examinierenden' que = als, die Stellung der
Pronomina, die ausgedehnte Anwendung mächtiger Pe-
rioden u. ä., das alles find Sachen, worin man fleh gar
bald einlieft. Der Grund ift vielmehr vornehmlich in dem
Mangel einer vollftändigen, chronologifch geordneten, kri-
tifchen Ausgabe der Briefe zu fuchen. Dag die C 1 e r -
fellierfihe Ausgabe dielen Anforderungen nicht ge-
nügte, war nach den .bekannten Schiddalen der Brief manu-
fkripte und "dem Mamaligen Standpunkt der philologifihen
Wiffenf&aft felbftverftändlich. Daß aber .auch die Ausgabe
Coulins den modernen Anforderungen nicht entfprach,
zeigt die Seibitbeurteilung feines Werkes aus dem Jahre
1866: „Es ift D.' nicht würdig, ich war noch zu jung, als
ich es unternahm" (I, LXII). Die D.-Forfiher mußten um-
fomehr Bedenken tragen, die gerade Straße feiner dog-
matifihen Hauptwerke zu verlaifen und in die Silvas atque
paludes der Briefe einzudringen, als fchon Clerfellier,
der belte Kenner feiner Briefe, auf einige Schwierigkeiten
hingewiefen hatte (V, 624): „Man darf nicht glauben, dag
die Löfungen, die D. den ihm geftelKen fihwierigen
Fragen gegeben hat, als feine leßten Entfihließungen gelten
dürfen und als Entfiheidungen, wovon er felbft vollftändig
befriedigt wäre. Sind doch darin mehrere Fragen, die
er nur im Vorübergehen"; behandelte; einige hat er nur
in den Umriffen bearbeitet, da fle ihm ja zum erften
Male unter die Hand kamen; andere hat er fpäterhin in
feinen Schriften korrigiert, da er mit der Zeit weifer ge-
worden; bei anderen hat er fleh genauere Forfihung vor-
behalten, wenn er mehr Luft und Muße für die notwen-
digen Unterfuchungen haben würde, um feine Über-
legungen zu rechtfertigen; wiederum bei anderen ^wollte
er fleh nicht von vornherein feftlegen, weil er noch nicht
Digitized by
Google
— 8 —
wünfchte, fldi offen darüber auszufprechen." Kein Wunder,
wenn man bisher Bedenken trug, den Jahrhunderte lang
beackerten Boden der Hauptwerke D/ zu verfallen und in
das Neuland feiner Korrefpondenz einzudringen und es
fyftematifdi inbezug auf die in ihm verborgenen Schäfte zu
unterfuchen.
Da unternahmen es 1897 Adam und Tannery,
durchdrungen von der Erkenntnis, dag zum Verftändnis
der Werke D.' fortwährende Verweifungen auf feine Kor-
refpondenz nötig feinen, eine allen modernen Anfprüchen
auf Vollftändigkeit, Textflcherheit, fldiere Datierung ge-
nügende Neuausgabe der Briefe auf Staatskoften heraus-
zugeben, und zwar unter Beobachtung der chronologifchen
Ordnung, damit das Denken des Philofophen in feiner
fortlaufenden Entwiddung erfiheine (I, XI) und pourque
la France puisse montrer, ä FExposition universelle de
1900, une edition de son philosophe, digne d'elle et digne
de lui (I, XIII). Zwar ift es den beiden Gelehrten nicht
gelungen, den gefteckten Termin einzuhalten — erft am
30. März 1903 verlieg der 5. (Schlug-) Band der Briefe
die Prelle, und von der auf zehn Bände projektierten
Gelamtausgabe ftehen nodi zwei aus — aber fle haben ihr
ftolzes Wort eingelöft: Vor uns liegt eine Ausgabe, die
nicht nur fämtliche bekannte Briefe D.' in chronologifiher
Reihenfolge mit den ermittelten Gegenftücken der Adref-
faten enthält, fondern auch mit philologifcher Akribie
fämtliche Varianten, fihwer zugängliche erläuternde Per-
fonal- und Sachnotizen bietet, mühevoll zufammengeftellte
überflchtliche Tabellen enthält, die einen felbftändigen
Vergleich mit andern Ausgaben geftatten, etc., kurz eine
Ausgabe, die in ihrer einzig vornehmen Ausftattung und
hervorragenden Durchführung den höchften Anforderungen
untrer anfpruchsvollen Zeit genügt.
Man lollte annehmen, dag in der nach dem D.-Jubi-
]äum eingetretenen Hochflut in der Spezialliteratur — allein
Digitized by
Google
— 9 —
nach 1900 erfdrienen 36 Schriften und längere Aufläge
über D. — diele neue Ausgabe den Anflog zu einer fyfte-
matifdien Durcharbeitung der Briefe gegeben hätte; aber
weit gefehlt, die meiften zitieren nach wie vor Clertel-
lier und Coufin auch bei Briefftellen, und foviel wir
fehen, haben nur acht die Briefe für ihre Zwecke gründlich
nach der neuen Ausgabe benugt: Boutroux, Chrifti-
anfen, v. Hertling, Hoffmann, Jorges, Keuffen,
Pfeffer und Rodrigues. Die zum Teil überrafchenden
Refultate, worauf Ipäter Bezug genommen werden mug,
flehern dielen Schriften einen Plag unter den beften Spezial-
fihriften aus dem vorigen Jahrhundert, denen eines S ch a a r -
fdimidt, Loewe, Heinze, Grim m , Glogau, Koch,
Natorp, Schwarz, Kupka, v. Hertling.
Soll nun das von Adam und Tannery erfihloffene
Material in Zukunft fruchtbringender für die exakte Dar-
fteilung der D.fihen Philofophie fleh geftalten, fo ift zunächft
zu fordern, dag das für eine Einzelfrage einfihlägige
vollftändig und genau zitiert werde, weil lonft aus der
Genefls und Entwicklung der D.fihen Anflehten, wie fle
uns aus den Briefen entgegenleuchtet, keine Belehrung
für das fertige Syftem zu erhoffen ift. Die Erforfihung
der Überzeugungen von Männern wie D. haben nach
Natorps Wort (Erkenntnistheorie 11) mehr als ein blog
antiquarifihes Intereife und dürfen eine grögere Sorgfalt
beanfpruchen, als man allgemein diefem Gegenftande zu
widmen pflegt. Gerade die Briefe fpielten im 17. Jahr-
hundert eine andere Rolle als heutzutage. Sie vertreten,
wie Monchamp (58) bemerkt, die Stelle moderner Revue-
artikel und wiffenfihaftlicher Bulletins, und die in ihnen
enthaltene Wiifenfchaft dient in hervorragender Weile zur
Erklärung gewiffer Stellen ihrer früheren oder fpäteren
Werke. Ein Mann wie D. vollends,, der fogar die Stel-
lung des einzelnen Wortes im Sag überlegte, — vergl.
III, 61, wo wir erfahren, dag er Med. resp. III p. 259 f.
Digitized by
Google
— lo-
ci 6 ed.) das Wort idea zwei- oder dreimal hintereinander
abflditlidi gefefet hat, desgl. I, 349, III, 340 — verdient
dag man ihn nach der Regel behandelt, die er felbft
Fermat gegenüber ausdrückt (II, 407): „Wie man forg-
fältiger die kleinften Splitter von Diamanten als die
größten Stücke von gewöhnlichen Steinen bemerkt, fo
habe auch ich auf das kleinfte achten zu muffen geglaubt,
was von Ihrer Seite herkommt, mehr, als wenn es von
einer weniger geachteten Perlon käme."
Zur richtigen Würdigung einer Briefftelle ift ferner
die Berückfichtigung des Zufammenhanges unbedingt von
nöten, ob fle, wie das überhaupt häufig bei D. vorkommt,
nur eine gelegentliche, unwefentliche, leicht hingeworfene
ift, oder ex professo gefihrieben ift, wo dann ein Zurück-
gehen auf die Anfrage des Korrefpondenten und deffen
philolophifche Stellung nicht zu vermeiden ift. Befonderes
Intereffe bieten natürlich folche Materien, worüber fleh in
feinen Hauptwerken nichts findet. Wir wiffen, dag D.
fchon in der Form feiner Briefe fleh der größten Zurück-
haltung befleißigte (cf. III, 565): Auch als Brief fihreiber
ein Weltmann mit den Sitten der Gefellfchaft, läßt er fleh
nur mit Standesgenoffen in ein geiftiges Duell ein (II, 149),
immer weltgewandt und höflich (III, 494), mildert er
fcharfe Ausdrücke in feinen Briefkonzepten oder zieht fle
zurück (II, 271), weiß aber auch erforderlichenfalls ein
entfehiedenes Wort zu fprechen (II, 51, 146); auf freund-
lichen Gruß bietet er noch freundlicheren Gegengruß (II, 70),
aber auch in delikaten Fällen bleibt er fleh immer bewußt,
daß verba mitissima veritatem causae melius confirma-
bunt (III, 68) cf. III, 340, Z. 7, und daß die Wahrheit fo
wenig geachtet ift, wenn fle allein fteht, (III, 84), cf. auch
III, 240, Z. 12 ff. Ebenfo vorflehtig war er in der Wahl
deffen, was er von fleh gab. Wie er den Discours nur
drucken ließ, um die Furten für feine phyfikalifihe Ab-
handlung auszuforfihen (I, 370), wie er auch in Medi-
Digitized by
Google
— 11 —
tationen nadi dem Grundlage verfuhr, daß man nicht alles
zu fagen brauche, was man wüßte, damit der Gegner fldi
unvermerkt an die vorgetragenen Grundlage gewöhne
(III, 297) und ihm Gelegenheit geboten werde, aus den
vorgetragenen Erklärungen felbft Schlüffe zu ziehen
(I, 411), fo trägt er auch in feinen Briefen, die er immer
druckfertig niederfdirieb und deren Kopien er aufbe-
wahrte, nicht lein Herz auf der Zunge und hat beim
Schreiben immer den Korrelpondenten vor Augen. Longe
enim difficilius est, de omnibus, quae ad rem medicam
pertinent, meam sententiam exponere, quam cognitu faci-
liora seligere, ac de reliquis prorsus tacere, quod ego in
omnibus scientiis facere consueui (III, 433). Seinen Geg-
nern und Feinden antwortet er nicht gern, oder kurz,
und bricht dann plöglich die Korrefpondenz ab, weil er
gleichfam inftinktiv aus der Schreibart und den Einwen-
dungen des Gegners herausfühlt, dag eine erfpriegliche
Verftändigung nicht zu erreichen ift. Aber auch wenn
leine Freunde und die Anhänger leiner Lehre mit Zweifeln,
Fragen, Einwendungen an ihn herantreten, fteigt er nicht
von feiner einfamen olympifihen Höhe herunter, felbft hier
nimmt er nur zu den unumgänglich notwendigen Konfe-
quenzen feiner Lehre, in vorflchtiger Referve verharrend,
Stellung: Tacere quidem in tempore, ac non omnia, quae
sentimus, ultro proferre, prudentis est (IV, 256). Er kann
aber auch Subtilität gegen Subtilität fefeen, und hellt zu-
weilen mit grogem Scharffinn dunkle Punkte in feinem
Syfteme auf und wir hören ihn manchmal Einwände ent-
kräften, die noch heute mit gewichtigen Gründen gegen
feine Lehre geltend gemacht werden. D. felbft mahnt,
ebenfo fehr auf das zu achten, was er verfthweigt, als auf
das, was er fagt, wenn eranFroidmont fchreibtd, 414 f):
„Diefes und vieles Ähnliche hätte ich nicht blog dem, was
ich über die Seele gefchrieben, fondern auch faft allen
übrigen Gegenftänden hinzufügen können, aber ich habe
Digitized by
Google
— 12 -
«s gefliffentlich verfchwiegen, fowohl um nichts Fal-
fihes zu lehren, indem ich jenes widerlege, londern auch da-
mit es nicht den Anfihein gewinnt, als wollte ich in der Schule
angenommene Meinungen verhöhnen." Unter dielen Um-
Itänden fiheint mir gerade für die Benutzung der Briefe
D.' beherzigenswert das Wort v. Hertlings (Köln.
Volksztg. 4. Oktober 1905, No. 824): „Kein Anhaltspunkt
<larf überiehen, jedem leifeften Winke muß nachgegangen
werden, damit der wirkliche Sinn des Ausfpruches end-
giltig feftgeftellt werde."
Damit ferner jedes Fragment wiederum dem Gefüge
eingegliedert werden kann, dem es entnommen ift, find
<lie genaueften chronologifihen Datierungen nötig. Denn
einmal ift durch die Unteriuchungen Millets, K. Fi-
ichers, Baumanns und Natorps feftgeftellt, dag die
regulae eine Vorftufe D.' bezeichnen, die fihon 9 Jahre vor
dem Gewinn feiner metaphyfifchen Grundfätje erreicht
war (Natorp 12), fie mithin nur ein intereffantes Schrift-
ftück für D.' Entwicklung darfteilen, aber ungültig find] als
Erkenntnisquelle feiner Philofophie (Bau mann 202) *).
Bildet aber etwa das Jahr 1628 den Wendepunkt in den
Anfchauungen des Philofophen, fo ift dies für die Erklä-
rung der Briefftellen infofern von Bedeutung, als feine
ganze philofophifche Korrefpondenz, die erft ^mit diefem
Jahre einfefet, in feine zweite dogmatifche Periode fällt.
Fernerhin lägt fich durch den Vergleich feiner methaphy-
fifchen Hauptfchriften eine fortfchreitende genauere Prä-
mierung gewiffer termini feftftellen. Als Markfteine für
ihre Unterfuchung, die umfo notwendiger erfcheint, als D.
fie ohne genaue Begrenzung in feine philofophifchen Er-
örterungen aufgenommen hat, obwohl fie wefentliche Ele-
mente feiner Beweisführung find, und als Ruhepunkte,
*) Die Natorpsche Schule zieht allerdings die Baum an ti-
sche Folgerung nicht.
Digitized by
Google
- 13 —
die zum Vergleich mit leinen Hauptfdiriften einlade n>
werden fich mithin öfters ergeben die Erfiheinungsjahre
des Discours 1637, der Meditationes 1641, der Principia
1644 und der Passiones 1650.
Wenn nun auch die genauere Prüfung und kritifche
Sichtung des hiftorifih gehobenen Materiales einen breiten
Raum in unlerer Daritellung einnehmen wird, lo wird
doch der eventuelle Nachweis einer Wandlung in D.' Lehren
während der legten dreigig Jahre feines Lebens in gewiffer
Hinfleht den leitenden höheren Gefichtspunkt für unfere
Unterfuchung bilden. Wir werden zu dielem Zwecke die
entfiheidenden Briefftellen unter einander und mit dea
entfprechenden Darftellungen in D.' Hauptfihriften kritifih
zu vergleichen und feftzuf teilen haben, ob die Erweite-
rungen und Konzeffionen, wozu D. durch die Oppofition
feiner Korrefpondenten gedrängt wurde, ihm äußerlich
aufoktroyiert, oder aus feinem Syftem organißh er-
wachten, leinem Charakter konform find. Auf diefem Wege
ift auch Hoffnung vorhanden, dag eine magvolle Kritik
die vielen Unklarheiten und Widerfprüche, die einzelne
Spezialfihriften in D. konftatieren bezw. konftruieren, in-
dem fie gewiffe Stellen aus den verfchiedenften Zeiten
nebeneinander halten, befeitigt werden. Freilich fo grog
wie bei manchem modernen Philofophen werden wir uns
diele Entwicklung von vorn herein nicht zu denken haben.
Denn D. war, um ein Wort Schneiders (6) zu ge-
brauchen, ein reifer Mann, ehe er eine Zeile für die
Öffentlichkeit fchrieb. Als Huygens ihn drängte, den
Monde herauszugeben, lehnt D. ab mit der Begründung,
man muffe die Früchte an den Bäumen reifen laffen
(II, 552), und er konnte fich freuen, als er fah, dag felbft
die ftärkften Einwände, die man ihm machte, nicht dea
fchwächften gleichkamen, die er fich felbft vor der Ver-
öffentlichung feiner Werke gemacht hatte (I, 449). Aber
immerhin ift die Meinung nicht abzulehnen, dag während
Digitized by
Google
- 14 —
des grogen Zeitraumes, den der Briefwechfel füllt, feine
Anfchauungen fidi mannigfach verfdioben haben können
und dag manche Lehre D.' erft durch die Einwürfe feiner
Gegner fidi zur vollen Klarheit entwickelt hat. Hierbei
gilt es dann befonders die Motive und Einflüffe aufzu-
decken, die D. zu einer Änderung veranlagten, und die
Berührungspunkte mit früheren und zeitgenöififchen Philo-
fophen im Auge zu behalten. Denn um eines vorweg
zu nehmen, fo belehren uns gerade die Briefe, dag D.
der Scholaftik manches Problem verdankt und dag fie
mindeftens infofern, als fie feinem kritifdien Geifte Stoff
zur Polemik bot und fo feinem Denken eine andere Rich-
tung gab, hin und wieder auch politiv ihren Anteil an der
Entltehung von D.' im ganzen originalen Syftem gehabt
hat (vergl. Lewkowife 79). Den im Streite der Geifter
fortfdireitenden logifdien Zufammenhang aufzudecken, ihn,
wenn auch nicht immer in konftruierten Kategorien, io
doch in der lebendigen gegenleitigen Einwirkung der
Korrelpondenten erlichtlich zu machen, wird eine unterer
vornehmlten Aufgaben fein.
Einem Hauptgebote der modernen Philologie und
kritifdien Gefdiichtsforfihung wird es fernerhin entlpre-
<hen, wenn wir die D.fihen Briefe nicht in das fremde
Licht einer fpäteren Denkweile rücken, fondern fie ganz
aus lieh und ihrer Zeit heraus zu begreifen fudien. Hat
doch D. felbft des öfteren feine Schüler fogar aufgefor-
dert, ihm niemals eine Meinung zuzufthreiben, wenn iie
fidi nicht ausdrücklich in feinen Werken fände (V, 624).
Natorps geiltreiche Unterfuchungen in Ehren; aber die
Daritellungen Calfierers, Rofes, Leders u. a, zeigen
uns einen D. ä la Kant frifiert. Auf Grund mehrjährigen
Quellenftudiums fchliege ich mich voll und ganz den
v. Hertlingfihen Ausführungen an, die mir erft nach-
träglich zu Gelicht gekommen find (380): „Mag auch eine
rückwärts blickende Gefdiiditsbetrachtung in der D.fdien
Digitized by
Google
— 15 —
Philofophie bereits die Keime finden, deren weitere Ent-
wicklung nicht nur zur Befeitigung der ariftotalifth-fchola-
ftifihen Philofophie, fondern der ganzen bisherigen Weife
des Philofophierens überhaupt hinführte, dag D. felbft
fleh diefer Konfequenzen bewußt gewefen wäre, ift nidit
anzunehmen. D. dachte nicht daran, aus der getarnten
-bisherigen Welt- und Lebensanfdiauung herauszutreten
und dem wiffenfdiaftlidien Leben ein völlig verändertes
Ziel zu ftecken, fondern er vermeinte nur mit Hilfe feiner
Vorausfegungen und feiner Methode diefelben Probleme,
die fthon immer, wenn auch ohne Erfolg die Forfcher be-
fchäftigt hatten, einer abfdiliegenden Löfung entgegenzu-
führen. Er wollte ein Reformator der Philofophie fein,
der Gedanke an eine Revolution, wie fle fpäter Kant
durch die Umkehrung des Verhältniffes von Subjekt und
Objekt proklamierte, lag ihm fern." Und Scheel (Sp.667)
äußert fleh ähnlich: „Es als bewiefen vorauszufegen, dag
D.' Philofophie getragen fei von der Grundtendenz des
Kritizismus, mug ich doch für recht bedenklich halten.
Bisher ift wenigftens das Recht einer prinzipiellen Deu-
tung der Philofophie D.' im Sinne des Kritizismus m. E.
nicht bewiefen." Desgleichen nimmt Keuffen (16 f.) in
fdiarfer Weife gegen Natorps „gewaltfamen" Verfuch
Stellung, die Kantßhe reine Apperception der auf die
Tatfächlichkeit des Denkens gegründeten Gewigheit der
eigenen Exiftenz bei D. zu Grunde zu legen und Kant-
fche Vorausfegungen in D.' Gedankenfolge hineinzutragen.
Im Einklang mit v. Hertling betont er (54) bei aller Her-
vorhebung des Gegenfages zu Ariftoteles: „Aber im
Wichtigften wollte und konnte D, fich nicht den Denkge-
wohnheiten von Jahrhunderten und dem Vorbilde des
griechifchen Denkers entziehen." Maggebend für den Ver-
faffer war alfo die Richtfdinur, die v. Hertling (381)
gezogen: „Auch für die nachträgliche Konftruktion des
Zufammenhanges, welcher fldi auf den Inhalt der carte-
Digitized by
Google
— 16 —
flanifdien Philofophie und einzelne feiner Lehrausfprüche
ftüfet, ift die Stellung nidit gleichgültig, die der erfte Begründer
der neueren Philofophie zu der alten Sdiule felbft und
mit Bewußtfein eingenommen hiat. a „Nidit was man in
eine Lehre hineinlegen kann," fagt audi Sdi neider (44),
„fondern was klar und unzweideutig in ihr formuliert ilt,
gehört ihrem Schöpfer, und deshalb werden wir D. weder
zum Kritiziften noch zum Scholaftiker machen, fondern ihm
feine gefdiichtlidie Stellung als eines originalen Denkers
belaffen." Dag die hiftorifihe Philofophie bei der Dar-
fteilung eines Syftems, welches, nachdem es aufgehört hat
durch feine Refultate zu herrfihen, noch immer (nadi
K. Fifdier) durdi feine Probleme herrfiht, audi die
Beziehungen der D.fihen Philofophie zu den Proble-
men des Tages aufzudecken hat, glaubte Verfaffer eben-
falls berückfiditigen zu muffen, um die „aufgeftapelten
Altertümer" nach beften Kräften auch für die Gegenwart
als fruchtbringend zu erweifen.
Nodi eine lefete Klippe ift nadi der hiftorifihen Er-
hebung und quellenmäßigen Sammlung des Materials zu
vermeiden, wenn es gilt, die D.fihen Gedankenblöcke zu
einem einheitlichen Gebäude zu vereinigen, nämlich die
einer zu allgemeinen und rhetorifihen Darftellung, worin
fich allzuleicht fubjektive Elemente einfihleichen. Sind
doch, wie ein Autor meint, die im Dienfte der Syftematik
unternommenen philofophiegefihichtlidien Darftellungen in
der Regel dringend verdächtig, mehr ein Bekenntnis des
Zufammenftellers, denn eine objektive Durchdringung des
hiftorifihen Stoffes zu bieten. Diefe Schwierigkeit wird da-
durch vermehrt, dag das D.fihe Syftem aus einem Geift be-
ftehtund dag es, wie Schneider (62) hervorhebt, bei D.
fihwer ift, den zwingenden Bau feiner Logik und Dar-
ftellung zu durchbrechen, das Syftem in Stücke zu teilen
und diefe anders anzufehen, als er fie anfah und ange-
fehen wiffen wollte. „In allem, was ich gefihrieben
Digitized by
Google
— 17 —
habe", — lagt D. III, 266 von den Meditationen, es'gilt aber
auch von leinen Briefen — , „bin ich nicht der Ordnung
der Materien, fondern nur der der Gründe gefolgt, d. h. ich
unternehme es nicht, an ein und derfelben Stelle alles zu
lagen, was einer Materie eignet; denn es würde mir un-
möglich fein, es dort zu beweifen, da ich dort Gründe
habe, von denen die einen viel fpäter angezogen werden
muffen als die anderen. Aber indem ich ordnungs-
gemäß a facilioribus ad difficiliora fortfihreite, führe ich
bald für die eine, bald für die andere Materie davon aus,
was in meiner Macht fteht. Dies ift m. E. der wahre
Weg, die Wahrheit zu finden und zu erklären. Die Ord-
nung nach Materien hingegen empfiehlt fich nur für die-
jenigen, deren fämtliche Gründe gefondert find und die
ebenfo von der einen wie von der anderen Schwierigkeit
fprechen können. Ebenfo halte ich dafür, daß es weder
gelegen, noch fogar möglich ift, in meine Meditationen die
Antwort auf die etwa erfolgenden Einwände einzufügen;
denn dief es würde ihren ganzen Zuf ammenhang zerreißen und
fogar die Stärke meiner Gründe aufheben." Dieser gleich-
fam lebendige Organismus und nicht künftlich aufgefihichtete
Bau des D.fihen Syltems macht es ftreng genommen un-
möglich, es in fcharf gefonderten Abfchnitten zu befprechen,
ohne fich Wiederholungen auszulesen, da jede noch fo
lorgfältige Trennung im Grunde eine willkürliche und
äußerliche ift, und eventuell ganze Gedankenreihen zum
Teil ineinander übergehen und fich wiederholen müifen»
Dennoth konnte bei möglichfter Beobachtung der hifto-
rifchen Reihenfolge auf fyftematifche Form nicht ganz
verzichtet werden, wie denn anderseits Verfaffer auch die
Beobachtung Chriftianfens (6) machen konnte: „Es
fügt fich, wenn man das Material gefammelt hat, ein Teil
fo paffend und genau dem andern an, wie die Scherben
einer Vafe, fo daß von diefer Affinität wohl mit ziem-
licher Sicherheit auf den wirklichen Zufammenhang, den
2
Digitized by
Google
- 18 —
diele Ideen in dem lebendigen Denkprozeß des Philo-
fophen gehabt haben, gefdüoffen werden darf." Ob es
gelungen ift, das in unendlicher Zerfplitterung vorgefun-
dene Material zum wahrheitsgetreuen Bilde feiner urtprüng-
lichen Verknüpfung zufammenfdiließen , weiß Verfaffer
nicht; jedenfalls war fein leitendes Motiv, der Forderung
Loewes (240) zu genügen, keine betreibende Erzäh-
lung des Inhaltes zu geben, fondern fidi der inneren
Gliederung, der bewegenden Kraft und der prinzipiellen
Wurzelgedanken des Syftemes zu bemäditigen, um das
Syftem aus diefen gewiftermaßen vor unteren Augen
neuerdings erftehen und Geftalt und Leben gewinnen zu
laffen.
Das wären fo die Geöditspunkte, die dem Verfaffer
bei Abfaffung vorliegender Arbeit vorgefchwebt haben.
Wenn er nun noch begründen foll, weshalb er fidi gerade
diefes Thema zum Vorwurf genommen hat, fo muß er
erklären: vornehmlich die Stellungnahme D.' zur Frage der
Erklärung der tierißhen iLebensphänomene fihien ihm fo
recht geeignet zu fein, die Probe aufs Exempel zu machen
und die einleitend dargelegten Grundfäße an einem zwar
kleinen, aber deshalb nicht minder wichtigen Stücke des
Syftemes zur anfdiaulichen Darfteilung zubringen. Außer-
dem mangelt es bisher an einer fyftematifdien Zufammen-
ftellung der auch für die anthropologifdie Pfydiologie des
D. fo wichtigen in untere Frage einfdilägigen Materiales
aus feinen Briefen. Eine möglidift genaue und vollftän-
dige Syftematik feiner Lehre in diefem Punkte erfcheint
endlich um fo dankbarer, als nur eines feiner Hauptwerke
untere Frage eben anfdineidet und die vielen Wider-
fprüche, die einzelne Spezialfdiriften gelegentlich in der
Auffaffung unterer Frage bei D. feftftellen zu dürfen
glauben, zu dem Verfuch geradezu reizen, dunkle Punkte
aufzuhellen und die Anflehten D.' in ihrer Reinheit und
Urfprünglichkeit von einem höheren Gefichtspunkte aus
Digitized by
Google
- 19 —
zu einer widerfprudislolen Einheit zufammenzufaffen. Dag
hierbei das Räderwerk der berüchtigten „kartefianifihen
Tiermafchine" z. T. in anderer Weife funktioniert und
zufammengefefet ift, als die Tradition es annimmt, hat fleh
— nicht zur geringften Überrafchung des Verfaffers felbft
— gegen Ende herausgeftellt. Möge diefer Umftand die
Kenner D.' nidit abhalten, in eine wohlwollende Prüfung
der Erftlingsarbeit des Verfaffers einzutreten, und den
vorgetragenen Anflditen, falls es ihnen möglich ift, ihre
Zuftimmung zu erteilen. Sollte aber die Kritik zu dem
Urteil kommen, dag Verf. operam et oleum verfdiwendet
hat, fo wird er dennoch die Stunden, die er zu den
Fügen des Weltv/eifen flfeend verbrachte, zu den edelften
ieines Lebens zählen.
Gefeke i. W., am Todestage Descartes' 1906.
D. V.
IL Descartes' Stellung von 1630 bis zum
Winter 1645(46.
1. Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier und
die mechanistische Erklärung des tierischen Lebens
im allgemeinen (1630-37).
Die erfte briefliche Äußerung D.' über die Tierfeele
findet fleh I, 153 f. unter dem 27. Mai 1630 an Mer-
ie n n e; doch flehen Datum und Adreffat nicht feft. D. beant-
wortet die fcholaftifdie Frage, welches die Vollendung der ver-
nunftlofen Tiere wäre und was aus ihren Seelen nach dem
Tode würde, dahin, dag, wenn auch Gott ganz in feiner
Vollkommenheit bliebe, d. h. ganz collective, lo doch nicht
jedes Ding im einzelnen: Denn gerade der Umftand, dag
die Einzeldinge untergingen und andere an ihre Stelle
träten, fei eine der Hauptvollkommenheiten des Univer-
Digitized by
Google
- 20 —
lums. Betreff der Zukunft ihrer Seelen und der der anderem
Formen und Qualitäten folle er fleh nicht den Kopf zer-
brechen; er hoffe es in feiner in Angriff genommenen
Abhandlung allen verftändlidi zu machen. — In der Gleich-
ftellung der Tierfeelen mit „den anderen Formen und
Qualitäten" ift bereits die Mechaniflerung der tierifdien
Lebenserfiheinungen und in der Ablprechung der Fort-
exiftenz des einzelnen Tieres der fundamentale Unterfchied
zwifchen Menfihen- und Tierfeele angedeutet.
1637 erfdiien der Discours. Die im 5. Teile enthal-
tenen Darlegungen bilden die Balis aller fpäteren Er-
örterungen unterer Frage. D. fupponiert (VI, 45 f.), Gott
bilde einen Körper, der in der äußeren Geftalt feiner
Glieder und in der inneren Übereinftimmung feiner Or-
gane unterem Körper ähnlich fei, sans le composer d'autre-
matiere que de celle que j'auois descrite, & sans mettre
en luy, au commencement, aneune ame raisonnable, ny
aueune autre chose pour y servir d'ame vegetante ou
sensitiue, sinon qu'il excitast en son coeür un de ces
feux sans lumiere, que j'auois desia expliquez, & que je
ne conceuois point d'autre nature que celuy qui echaufe
le foin. Er prüft die Funktionen diefes Körpers und
findet, dag es genau die find, welche die Tiere auf-
weifen oder wir felbft, „wenn wir nicht daran denken".
Die Tierleiber, lefet er fernerhin VI, 55—59 auseinan-
der, könnten als Automaten oder Mafihinen betrachtet
werden, die, weil aus Gottes Hand hervorgegangen, na-
türlich unvergleichlich vollkommener leien, als die von
Menfihen verfertigten. Gäbe es folche Tiermafihinen, fo
gäbe es nur zwei Mittel, fle von wahren Menfihen zu
unterfcheiden: 1. würden fle nur zufällig durch Worte
oder Zeichen auf Befragen richtig antworten, und 2. wür-
den ihre Bewegungen, möchten fle oft auch ficherer und
regelmäßiger als die der weifeften Menfihen fein, nicht
für alle Wechfelfälle des Lebens paffen; denn die parti-
Digitized by
Google
— 21 —
iuläre Dispofition der Organe könne niemals das Univer-
falinftrument der Vernunft eriefeen. Insbefondere be-
werte der Mangel einer Sprache im eigentlichen Sinne den
.gänzlichen Mangel der Vernunft und damit die gänzliche
Verfdiiedenheit der Menfihen- und Tierleele. Alio fei es
die Natur, die in den Tieren gemäß der Dispofition ihrer
Organe wirke, wie auch eine Uhr die Stunden genauer
angeben könne, als wir mit aller unferer Klugheit.
2. Das tierische Empfinden (1637).
Diele mechaniftifihe Erklärung des Seelenlebens im
Tiere rief fofort Fromondus auf den Kampfplafe (Fro-
mondus ä Plempius, 13. September 1637, 1, 4Q3). D. fiheine
zu behaupten, dag Wärme, wie die des erwärmten Heues,
-alle Tätigkeiten eines Tieres im menfihlichen Körper be-
wirken könne, mit Ausnahme der der vernünftigen Seele
eigentümlichen Handlungen. Alio könne die Hifee des
Heues, ohne eine andere fenfitive Seele, lehen, hören etc.
So edle Handlungen fchienen nicht aus fo unedler und
vernunftlofer Urfache hervorgehen zu können.
D. erwidert (I, 413), Fr. unterfchiebe ihm die Anficht,
die Tiere Iahen genau lo (plane) wie wir, d. h. mit der
Empfindung oder dem Bewugtfein ihres Sehens (sen-
tiendo sive cogitando se videre), eine Meinung, die
Epikur gehabt haben folle und die auch jefet noch all-
gemein verbreitet fei. „Ich zeige jedoch," fährt er fort,
„in jenem ganzen Abfdinitte ausdrücklich genug, dag ich
glaube, die Tiere fähen nicht wie wir, da wir ja unleres
Sehens uns bewugt werden (dum sentimus nos videre),
tondern nur wie wir, „dum mente alio auocata, licet
obiectorum externorum imagines in retinis oculorum
nostrorum pingantur, et forte etiamillarum impressiones
in nervis opticis factae ad diversos motus membra nostra
determinent, nihil tarnen prorsus eorum sentimus;
«quo casu etiam nos non aliter mouemur, quam automata,
Digitized by
Google
— 22 —
ad quorum motus ciendos nemo dixerit vim caloris non
sufficere."
Es könnte zweifelhaft erfiheinen, ob hier D. unter
sentire wirklich das bewußte Empfinden verfteht, zumal
die Auffaffungen der Empfindungslehre D/ weit aus-
einandergehen. So fagt Schwarfe die Empfindungen D/
nur als anthropologifihe Vorgänge, Faldcenberg(S. 87)
und vielleicht auch Windelband (S. 326/7, doch flehe
S. 188/9 u. 193) fie nur als Modifikationen der res cogitans,
eine Anfleht, der jüngft Chriftianfen (26) und Jorges
(49) beigetreten find, während Koch (124) und Rofe(25)
nach dem Vorgange K. Fi Ich er s D. fchwanken laffen,
indem diefer in der erften Hälfte der Meditationen die
Empfindungen als rein pfychifihe, in der zweiten Hälfte
(Med. 4—6) als anthropologifche und endlich in Les Pas-
sions de 1'äme und de homine fie als rein mechanifche
Vorgänge der res extensa aufgefaßt habe. Ohne an die-
ler Stelle uns für eine der vorgetragenen Anflehten feft-
zulegen, damit es nicht den Anfihein gewinnen kann, als
hätten wir unfere vorgefaßte Meinung in diefen Abfihnitt
hineingetragen, glauben wir uns auf Grund der Wörtdien
tantum und plane dahin äugern zu dürfen, dag D. zwi-
fchen sentire im weiteren und engeren Sinne unterfihieden
habe. Das sentire im weiteren Sinne erläutert er zum
erften Male durch den Zufag sive cogitare, der in den
zwei folgenden sentire ebenfalls implicite enthalten ift.
Wie durch die Klimax (etiam, prorsus) angedeutet ift, um-
fagt das sentire im weiteren Sinne drei Stufen: 1. den
durch die Augenkörper veranlagten Bewegungsvorgang
und feine Umfefeung im Sehapparat, 2. den phyflologifchen
Vorgang in den centripetalen Nerven und im Gehirn und
endlich 3. den pfychifihen Vorgang, der die beiden vor-
hergehenden in die höhere Sphäre des cogitare erhebt.
Die beiden erften Elemente konftituieren die Empfindung
im engeren Sinne und diefe ift es, die im Menfdien die
Digitized by
Google
— 23 —
mechanißhen Reflexbewegungen auslöft und allein den
Tieren zugefihrieben werden kann. Nur die Empfin-
dungen im weiteren und eigentlidien Sinne — sentire
sive cogitare — vermag die motus spontaneos zu er-
zeugen als charakteriftiche Äugerungen eines geiftigen
höheren Prinzips, als es die dispositio organorum ift.
Zur Stütje unierer Erläuterung möchten wir heranziehen
die 6 Monate zurückliegende Äuß_erung D.' (I, 366): vou-
loir, entendre, imaginer sentir etc ne sont que des diver-
ses fagons de penser, qui apartiennent toutes ä Tarne (sc.
de l'homme) und die weitere, 6 Monate Ipäter erfolgende
(II, 36), wo er le mot de pensee fagt als toutes les
Operations de Tarne, en sorte que non seulement les me-
ditations et les volontez, mais mesme les fonctions de
voir, d'ouir, de se determiner ä un mouuement plustost
qu'ä un autre etc, en tant qiu'elles dependent
d'elle, sont des pensees. 1 )
*) Wie bitter sich die Nichtbeachtung des D.schen Unterschie-
des der Empfindung im weiteren und engeren Sinne rächt, zeigen
die geradezu komischen Ausführungen Barks (63 f.). Nach ihm
fasst D. die Empfindungen auf drei verschiedene Arten auf:
1. sie sind reine Vorstellungen, die allein dem Geist ange-
hören. Danach müssen also auch die Tiere eine Seele haben und
der Wesensunterschied zwischen Mensch und Körper fällt in sich
zusammen.
2. die Empfindungen sind konfuse Gedanken, . . . daraus folgt
entweder, das Tier hat keine Empfindungen, — dieses widerstreitet
nicht nur der allgemeinen Erfahrung, sondern auch den direkten
Angaben D/ — oder das Tier hat Empfindungen. Somit müssen
beide Substanzen, Leib und Seele, in ihm vorhanden sein. Also auch
hiernach hat das Tier eine Seele . . .
3. die Empfindungen sind körperliche rein mechanische Vor-
gänge. Der lebendige Körper ist also vollständig unempfindlich.
„Kurzum", schliesst Bark (64) voll köstlicher Resignation, „die
Empfindungen sind nach D.' Lehre unerklärlich!"
Digitized by
Google
— 24 —
3. Die erste Auseinandersetzung mit der
Scholastik (1637).
Noch einen zweiten Einwand erhob Promondus
vom Standpunkt der fcholaftichen Erkenntnistheorie aus:
D. behaupte, es würde, wenn ein Automat die inneren
Organe und die äußere Geftalt eines Tieres hätte, nicht
der geringfte Unterfdiied (non ullum discerniculum)
zwifchen einem wirklichen Tiere und einer foldien Ma-
fchine lein. Welchen Zweck habe dann aber die An-
nahme von fubftantiellen Seelen in den Tieren, wenn die
Hitje des Heues für alle Handlungen der inneren und
äußeren Sinne und des finnlichen Strebevermögens ge-
nüge? Seine Behauptung könne vielleicht fogar den
Atheiften den Weg ebnen, daß fie auch die Handlungen
der vernünftigen Seele einer ähnlichen Urfache zufchrieben
und fie vom menfchlichen Körper ausfchlöflen oder doch
wenigftens eine materielle Seele an Stelle der immate-
riellen uns beilegten.
D* verwahrt fleh in feiner Antwort zunächft auf das
entfehiedenfte dagegen, daß feine Auffaffung der Tierfeele
zu atheiftifihen Konfequenzen führe. Indem er feinem
Gegner auf das theologifche Gebiet folgt, zeigt er, daß
feine Lehre fleh auf das engfte an die der Bibel anfchließt,
wonach die Tierfeele nichts anders als das Blut der Tiere
fei. Der Unterfihied, den e r zwifchen Menfchen- und Tier-
feelen fefee, fei fo groß, daß feines Wiffens bis jefet kein
kräftigerer Beweis zur Widerlegung der Atheiften er-
dacht fei. Und nun dreht D. den Spieß um und hält
feinem Gegner Lev. 17, 14 und Deut. 12, 23 unter die
Augen und überläßt es ihm, feine Lehre mit diefen
Schriftftellen in Einklang zu bringen. Der zweite Teil der
Antwort D. bewegt fleh auf philofophifchem Gebiete und
enthält eine intereffante Kritik der Erkenntnistheorie der
Digitized by
Google
— 25 —
Schule, gegen die er einen doppelten Vorwurf erhebt:
1. fle verwifihe die Grenzen zwifdien der Menfchen- und Tier-
leele, 2. fle flehe mit fleh felbft im Widerfprudi. Ange-
flchts des Umftandes, dag wir hier die erfte Stelle vor uns
haben, worin D* fldi direkt mit der bisherigen fcholafti-
fdien Auffatfung unleres Problems auseinanderlebt, möchten
wir die clausula concernens wörtlich anführen. „Des
ferneren fehe ich auch nicht ein, nachdem fle (die An-
hänger der fiholaftifchen Schule) einen lo geringen Unter-
fihied zwifihen tierifchen und menfchlichen Handlungen
gefegt haben, wie fle fleh von einem fo großen Unter-
fdiiede zwifdien den Naturen der rationalen und fenfi-
tiven Seele überzeugen können; foll doch die fenfltive
Seele, wenn fle allein ift, körperlicher und fterblicher Na-
tur, wenn fle aber mit der rationalen vereinigt ift,
geiftiger und unfterblicher fein. Worin, glauben jene,
unterfcheidet fleh denn sensus und ratio? Doch darin,
dag das Erkennen des niederen Erkenntnisvermögens
apprehenflv und einfach, und deshalb keinem Irrtum unter-
worfen ift, hingegen das Erkennen des höheren Erkennt-
nisvermögens ein wenig mehr zufammengefefet ift und
durch die Irrgänge der Syllogismen fleh bewegen kann-
Dies kann jedoch auf keine Weile leine höhere Vollkom-
menheit herbeiführen, zumal da jene auch behaupten, die
Erkenntnisweifen Gottes und der Engel feien auch höchft
einfach und intuitiv oder nur apprehenflv, mit keiner
fprachlichen Hülle verbunden, und das in einem Maße, dag
nach jenen — Gott lag es mich ohne Sünde fagen —
das Erkenntnisvermögen der Tiere näher an das Er-
kennen Gottes und der Engel herankommt als der menfdr
liche Vernunftfehlug."
Wir kenneu die Gründe nidit, die Fromondus
veranlagten, die Kontroverfe abzubrechen, nachdem
fle kaum einen Anfang genommen ; das ift jedoch
fleher, Fromondus fihwieg und D. fühlte fleh als
Digitized by
Google
— 26 —
Sieger 1 ). Das erfahre» wir gelegentlich, als Merlenne
D. auf Deut. 12, 23 als Stüfee feiner Lehre aufmerkfam
macht. D. antwortet am 11. Juni 1640 (III, 86): „Seit
langer Zeit habe ich jene Stelle gewußt und fie in meiner
Antwort auf die Einwurf e des Fromondus zitiert, indem
ich ihn drängte, eine Erklärung diefer Worte durch die
gewöhnliche Philofophie zu geben, aber &t hat überhaupt
nicht geantwortet."
4. Die tierischen Affekte und Leidenschaften (1638).
Ein Unbekannter, der fleh durch die Abfertigung
Froidmonts nicht abfihrecken lieg (I, 515, Z. 25),
wandte Febr. 38 (I, 514) ein, die Erfahrung beweif e, daß
die Tiere ihre Affekte und Leidenfihaften in ihrer Art
von Sprache kundtäten und dag fie ihren Zorn, ihre
Furcht, ihren Schmerz, ihr Bedauern, fchlecht gehandelt zu
haben, durch verschiedene Zeichen an den Tag legten.
Man brauche fleh nicht bei der Wahrheit gewiffer Tier-
anekdoten aufzuhalten; aber es fei augenfiheinlich, dag
die Tiere ihre Handlungen aus einem hervorragenderen
Prinzip festen, als aus der Notwendigkeit, die aus der
Anlage ihrer Organe hervorgehe, nämlich durch den In-
ftinkt, der fidi niemals in einer Mafchine oder in einer
*) Monchamp (6o) ist mit dieser Kontroverse sehr unzu-
frieden : es wäre besser geweser, wenn D. gleich von vornherein
klar gesagt hätte, was er beweisen wolle, aber er scheine manchmal
im Vertrauen auf die keineswegs bewiesenen Prinzipien davon-
zustürmen. Wir vermögen dieser Ansicht nicht völlig beizutreten.
Wenn auch zugegeben werden muss, dass die in Form einer Wieder-
gabe des Inhaltes des Monde gehaltenen Ausführungen des Discours
in ihrer skizzen- und lückenhaften Darstellung nach D.' eigenem Ge-
ständnis (I, 370) nicht als voll bewiesene Prinzipien gelten können,
so kann doch von einem Davonstürmen in unserem Briefwechsel
keine Rede sein angesichts der Tatsache, dass D. sich streng an die
Einwürfe seines Gegners hält und ohne unnötige Abschweifung
vom Thema Schlag mit Schlag pariert.
Digitized by
Google
— 27 —
Uhr fände, die keine Leidenfdiaften und keine Affekte
belügen, wie fle die Tiere hätten.
Die Ähnlichkeit der tierifchen mit den menfthlidien
Handlungen, erwidert D. März 1638 (II, 39), habe uns
von Jugend auf zur Annahme eines inneren Prinzipes
veranlagt, einer Seele, ähnlich der unteren, mit un-
teren Empfindungen und Leidenfdiaften. Um dies tief
eingewurzelte Vorurteil zu entfernen, muffe man das Ur-
teil eines Menfihen betrachten, der, ohne jemals ein
lebendes Wefen gefehen zu haben, als hödift gefdridrter
Mechaniker Tier- und Menfchenautomaten angefertigt
hätte. Zu welch hoher Vollkommenheit er es in feiner
Kunft aber auch gebracht haben möge, fähe er zum erften
Male einen wirklichen lebenden Menfchen, er würde den
Unterfchied zwifihen diefem und feinen hödift feingebauten
Reflexmafdiinen immer durch die beiden im Discours er-
wähnten Mittel f eftftellen können (f. o. S. 20), umfomehr, wenn
er die Kenntnis Gottes hätte und in den wunderbaren Bau
der Pflanzen einen Einblick gewonnen hätte 1 ). Unzweifel-
haft würde unfer Mechaniker nicht zu dem Urteil kom-
men, dag in den Tieren irgend eine wahre Empfindung,
noch irgend eine wa[hre Leidenfdiaft, wie in uns, vor-
handen fei, fondern nur, dag es Automaten feien, die,
weil durch die Natur gebildet, unvergleichlich höher vollen-
det wären, als die früher von ihm verfertigten. Die
Ähnlichkeit der äugeren Handlungen bei Menfdien und
Tieren berechtige mithin keineswegs zu dem Sdiluffe, dag
es fleh mit den inneren Vorgängen ebenfo verhalte. —
Beachtenswert erfiheint neben der rein negativen Ableh-
nung einer „wahren Empfindung, einer wahren Leiden-
fdiaft comme en nous" die Methode D.: er erkennt nur
*) Spätere Äusserungen aus dem Jahre 1642, nämlich III, 504,
Z. 3 und III, 566, Z. 1 ff. besagen explicite, dass Automat, Pflanze
und Tier nur graduell, nicht essentiell verschieden seien.
Digitized by
Google
— 28 -
•den rein phyfiologifdien Standpunkt als berechtigt an und
weigert fleh ausdrücklich, auf den naiven Standpunkt zu
treten, que nous avons fait deslors que nous estions
enfans. Indem er explicite die Berechtigung des Analogie-
ühlufles (fondant seulement sur la ressemblance qui est
entre quelques actions exterieures des animaux et les
nostres, laqiielle n'est nullement süffisante pour prouuer,
qu'ü y en ait aussi entre les interieures) wegen der
vagen ins Uferlofe fleh ergießenden Konfequenzen ver-
wirft und es ablehnt, auf den Boden der vergleichenden
Psychologie zu treten, fchüttet er das Kind mit dem
Bade aus.
5. Die tierischen Strebungen und Einbildungen
(1639/40).
Dieter Briefwedilel mit einem Unbekannten ift der
lefete, der durch den Discours hervorgerufen wurde.
l 1 /* Jahre lang ruhen jetjt die Erörterungen unferes
Problemes,. bis fle durch verfchiedene Anfragen Mer-
fennes, die übrigens in keinem inneren Zulammenhange
flehen, wieder in Flug kommen. Der fragmentarifthe
Charakter dieler Stellen dürfte eine Abweichung von der
ftreng hiftorifdien Reihenfolge geftatten, zumal lämtliche
Äugerungen unlerer Gruppe an einen Adreffaten ge-
richtet find und nur die Spanne eines Jahres (Oktober 39
bis Oktober 40) umfaffen. Zunächft die viel umftrittene
alinea 1 (II, 599) vom 16. Oktober 39: „Er (Martigny)
will, dag man überhaupt dem natürlichen Inftinkte folgt,
woraus er alle feine Allgemeinbegriffe zieht; ich meiner-
leits unterftheide zwei Arten von Inftinkten. Der eine ift
in uns, fofern wir Menßhen find, und diefer ift rein intel-
lektuell: Diefer ift das natürliche Licht oder der intuitus
mentis, dem allein nach meinem Dafürhalten man trauen
darf. Der andere ift in uns, fofern wir lebende Wefen
lind, und diefer ift ein gewiffer Antrieb der Natur zur
Digitized by
Google
- 29 -
Erhaltung unferes Körpers, zum Sinnengenuß ; der leib-
lichen Lüfte etc., dem man nicht immer 1 ) folgen darf."
Kombinieren wir hiermit III, 213 vom 28. Oktober 1640:
„Ich billige durchaus nicht die natürlichen Neigungen, die
er (Lacombe) ihnen (den Dingen) zulegt. Denn ich
kann folche Inklinationen nur in einem Ding be-
greifen, das Denken hat, und ich teile fie fogar
den vernunftlofen Tieren nicht zu. Ich erkläre
vielmehr alles, was wir in ihnen natürliche Stre-
bungen oder Neigungen nennen, n u r durch die Regeln
der Mechanik." Hiernach unterfdieidet D. drei Stufen im
Strebevermögen: 1. Die auf dem materiellen Subftrat der
dispositio organorum beruhenden und rein mechaniflh ver-
laufenden und zu erklärenden leiblichen Strebezuftände
der Tiere (appetitus naturales im uneigentlichen und
engeren Sinne). 2. Die hiervon toto genere unterfchie-
denen app. nat. im Menfihen, denen allein der Name app 4
nat. im eigentlichen und weiteren Sinne gebührt. Sie find
nur in uns en tant qu'animaux, d. h. infofern wir ein
conjunctum von Körper und Geift bilden, und da D. fie
„nur begreifen kann in einem Ding, das Denken hat," fo
find fie ein geiftiges Gefdiehen im menfiiilich befeeltea
Körper, der die äugere Veranlaffung dazu durch die sub 1
genannten app. nat. im engeren Sinne gibt. 3. Die letzte
Art der Strebungen ift die höchfte der beiden im Men-
fihen fleh findenden. D. vergleicht fie mit dem lumen
naturale oder dem intuitus mentis und fagt, fie fei in uns, en
tant qu'hommes et est purement intellectuel, d. h. nach m. A.
infofern wir eine res cogitans find, womit er augenfthein-
lidi fagen will, dag die Seele diefe Art Strebung auch
ohne ihre Verbindung mit dem Leibe haben würde. Es
ift alfo, wie aus dem Gegenfatje zu 2, von D. felbft auf-
*) Durch dieses „nicht immer 41 findet II, 37 seine Erklärung r.
„nos appetits et nos passions nous dictent continuellement le
contraire."
Digitized by
Google
— 30 —
geftellt, per negationem zu erfdiliegen ift, n i di t ein durch
den Körper veranlagtes und durdi äuger e Kaufalität
bedingtes Streben der Seele, londern es flammt aus
der Seele felbft, ift freies Wollen = voluntas pura 1 ).
Chriftianlen (41 f.) meint zu unterer Stelle: „Der
andere Inftinkt ift rein geiftig und wird als lumiere natu-
relle oder int. mentis befihrieben, offenbar ein hödift un-
glücklicher Ausdrude, denn diefe beiden Ausdrücke be-
zeichnen fonft bei D. theoretifche Vermögen bezw. Zuftände.
Es kann damit nur gemeint fein eine urfprünglidie Ten-
denz des Willens, dem, was durch das 1. n. oder i. m.
erkannt ift, zuzuftimmen." Faßt man, wie wir es oben
getan haben, die bradiylogifdie Wendung c'est la lumiere
etc. in unterer von D. flüchtig hingeworfenen
Notiz im Sinne von: er gleicht oder ift zu ver-
gleichen mit dem 1. n*, fo verwandelt fleh der höchft
unglückliche Ausdruck, in den Chriftianfens weit her-
geholte Interpretation erft Sinn hineinbringen mug, in
eine höchft naheliegende comparatio elegantissima, die fleh
unter Berückfiehtigung des oben S. 22 über Empfindung Ge-
fagten zu der fortlaufenden Proportion ausbauen läßt:
1. sentire i. e. S. : 2. sentire i. w. S. : 3. pure intellegere
= 4. appetere i. e. S. : 5. appetere i. w. S. : 6. pure
velle, deren 1. und 4. Glied (als rein mechanifihe Vor-
gänge) nur den Tieren eignen, während fämtliehe übrigen
nur vom Menfihen ausgefagt werden können und als rein
pfychifche Akte unter das D.fihe cogitare fallen, mit dem
Unterschied, dag Glied 2 und 5 im conjunetum, 3 und 6
nur in der res cogitans ihren Sig haben.
3 ) Dass von Willens fr eiheit beim Tiere keine Rede sein kann,
sagt D. ausdrücklich am 2. Mai 1644 (N, 117): „Pour les animaux
sans raison, il est 6uident, qu'ils ne sont pas libres, ä cause qu'ils
n'ont pas cette puissance positivede se determiner; mais c'est en eux
une pure negation, de n'estre pas forcez ny contraints."
Digitized by
Google
— 31 —
Die Stelle III, 85, Z- 3-8, am 11. Juni 1640 an
Merlenne gerichtet, iß an und für fldi lo klar und fügt
fldi fo harmonifih in die bisher entwickelte Lehre D.' ein,
dag wir es wagen dürfen, fle im hiftorifihen Lichte der
vorftehenden Ergebniffe zu verwerten trog ihrer Varianten
bei Clerle liier und des Fehlens der veranlaff enden An-
frage: „Ich erkläre nicht ohne [sc. denkende] Seele die
Empfindung des Schmerzes; denn nach meiner Lehre ift
der Schmerz nur im [sc. reinen, bewußten] Denken; aber
ich erkläre [sc. ohne denkende Seele] alle die äußeren
Bewegungen, die in uns diefe Empfindung begleiten.
Diefe allein [sc. von den Vorgängen im Menfchen] finden
fleh in den Tieren, nicht aber [sc. findet fleh dort] der
Schmerz im eigentlichen Sinne." Hiermit können wir fo-
fort verbinden den Schlugpalfus eines Briefmanufkriptes
an Gibieuf vom 19. Januar 1642 (II, 479): „Wir be-
merken in den Tieren wohl Bewegungen, ähnlich denen,
die aus unferen Einbildungen oder Empfindungen (imagi-
nations ou sentimens) folgen, aber deshalb keine Einbil-
dungen oder Empfindungen. Und im Gegenteil! Da diefe
felben Bewegungen ohne Einbildung ebenlo entftehen
können (sans imagination), lo haben wir Gründe, die be-
werten, dag fle fo in ihnen gemacht werden, wie ich klar
auseinanderzufegen hoffe, indem ich Stück für Stück den
ganzen Aufbau ihrer Glieder und die Urfachen ihrer Be-
wegungen befihreibe." Es möge die vorläufige Feftftellung
genügen, dag D. auch hier von den menfdxlichen Le-
benserfcheinungen ausgeht und nur menfehliche Stre-
bungen, Einbildungen und Empfindungen dem Tiere abfpricht.
6. Das tierische Gedächtnis (1640).
Wir übergehen nun die beiden Stellen aus dem Briefe
an Merfenne vom 30. Juli 1640, III, 121, Z. 10 und 122,
Z. 8, weil fle lediglich das im Discours und gegen Froid-
mont Gefagte wiederholen und wenden uns den Stellen
Digitized by
Google
— 32 —
zu, worin D. den Tieren das körperliche Gedächtnis zu-
fchreibt Zunächft III, 20 vom 29. Januar 1640 an Mey-
fonnier gerichtet: „Betreffs der Bilder, die im Gedächt-
nis aufbewahrt werden, bilde ich mir nicht ein, dag fle
etwas anderes feien, als die Falten, die in diefem Papier
aufbewahrt werden, nachdem es einmal gefaltet ift; auch
glaube ich, dag fle vornehmlich in der ganzen Hirnfubftanz
aufgenommen werden, obwohl ich nicht leugne, dag fle
ebenfo in irgend einer Art in diefer Eichel fein können^
vor allem bei denen, die einen ftumpffinnigen Geift haben.
Denn die fehr guten und fcharfflnnigen Geifter muffen die
Eichel ganz frei in fleh und fehr beweglich haben, wie wir
ebenfo fehen, dag fle in den Menfchen kleiner ift als in
den Tieren, ganz im Gegenfafe zu anderen Gehirnteilen.
Ebenfo glaube ich, dag einige diefer Gedächtnisbilder in
verfchiedenen andern Teilen des Körpers fein können, wie
die Gefchicklichkeit eines Lautenfpielers nicht blog in fei-
nem Kopfe, fondern teilweife ebenfo in den Muskeln
feiner Hände ift etc." Klarer drückt er fleh am 1. April
1640 (III, 47) an Merfenne aus: „Ich leugne durchaus
nicht, dag die Bilder, die dem Gedächtnis dienen, teil-
weife in der Eichel, conarium genannt, fein können, vor-
nehmlich bei den unvernünftigen Tieren und denen,
die einen rohen Geift haben. Denn die anderen würden,
fcheint mir, nicht fo viel Leichtigkeit haben, als fle haben,
fleh eine unbegrenzte Anzahl von Dingen vorzuftellen, die
fle niemals gefehen haben, wenn ihre Seele nicht
mit einem Teile ihres Gehirns verbunden
wäre, der fehr geeignet wäre, allerhand neue Eindrücke,
zu empfangen, und folglich höchft ungeeignet, fle aufzu-
bewahren." Den Schlugftein zu feiner Lehre vom Ge-
dächtnis der Tiere legt er am 6. Auguft 1640 (III, 143) in
einem ebenfalls an Merfenne gerichteten Briefe: „Ich
glaube nicht, dag die Gedächtnisfalten in fehr großer Zahl
vorhanden fein muffen, um allen unteren Erinnerungen zu
Digitized by
Google
— 33 —
dienen, weil ein und diefelbe Falte fldi auf alle ähnlichen
Dinge bezieht, und idi bin der Anfleht, dag auger diefem
körperlichen Gedächtnis, deffen Eindrücke (impressions, D.
felbft hat images getilgt) durch diele Gehirnfalten ver-
deutlicht (= zum Bewugtfein gebracht) werden können
(peuvent estre expliquees, Clerfellier hat re-
presentees), es in unferem Geifte noch eine andere
Art von Gedächtnis gibt, das gänzlich geiftig ift und
fich nicht in den Tieren findet und deffen wir uns
vorzüglich (principalement, Clerfellier lieft particuliere-
ment) bedienen."
Die Analyfe diefer drei auf das Gedächtnis der Tiere
bezugnehmenden Stellen ergibt, dag D. ein dreifaches
Gedächtnis unterßheidet : 1. Die memoire corporelle im
engeren Sinne, d. h. den reinen durch die esprits
animaux (f. III, 191) verurfachten phyfiologifihen Vorgang
(f. o. III, 20) im Gehirn, conarium, in den Muskeln etc.;
dag die formae sive species corporeae, quae esse debent
in cerebro, ut quid imaginemur, non sunt cogitationes
(III, 361), kann hier zur Veranfchaulichung herangezogen
werden. Diefe Art des Gedächtniffes allein eignet den
Tieren. D. antieipiert hier G. John Romane s' Anfchau-
ungen (Die geift. Entw. i. Tierreiche, Leipzig 1885, S. 29):
„Gedächtnis, phyfiologifdi genommen, bedeutet doch nur,
dag eine nervöfe Entladung, welche einmal in einer ge-
wiffen Richtung hin ftattgefunden, eine gewiffe mehr oder
weniger bleibende molekulare Veränderung zurückgelaffen
hat, fodag, wenn tpäter eine Entladung in derfelben Rich-
tung erfolgt, fie fozufagen die Fugfpuren der früheren
bereits vorfindet." III, 264 fagt er den Vorgang in der
glandula pituitaria ausdrücklich als einen rein mechanifchen
auf (il ne faut point conceuoir que cette Separation se
fasse autrement que mechanice) und konftatiert das Gleiche
vom conarium (et le sien office est de receuoir en
meme fa<;on les esprits animaux). Auf diefer rein mate-
3
Digitized by
Google
1
— 34 —
riellen Baus baut fidi auf 2. die memoire corporelle im
weiteren Sinne, die nur dort lein kann, wo eine menfch-
lidie Seele mit dem Gehirn verbunden ift (f. o* S. 32), die die
impressiones des erften Gedächtniffes, das die phyfiologifche
Vorbedingung darfteilt, mit Bewußtfein üdi vorftellen
kann. Die Aktualiöerung diefer Art des Gedächtniffes ift
an das Vorhandenfein der impressiones geknüpft, es ift
feiner Art nadi ein pfychifther Vorgang im conjunctum von
Leib und Seele. Die Richtigkeit diefer Anficht ergibt fidi
aus folgenden Stellen: III, 19: il fault de necessite que les
especes . . . s'aillent unir en quelque partie du corps pour
y estre considerees par Tarne. III, 48 nennt er es ab-
hängig vom Körper, III, 84 abhängig von den Falten des
Gehirns. III, 143 ift oben bereits gewürdigt. Den Unter-
fchied vom körperlichen Gedächtnis im engeren Sinne lägt
er fcharf hervortreten III, 361 : sed operatio mentis, siue
ad istas species se conuertentis, est cogitatio. Mens, fo
behauptet er ferner III, 424, a vestigiis in corpore im-
pressis afficitur, und zwar ift das Gehirn nicht bloß im
Wachen, fondern audi im Schlafe ad vestigia sibi im-
pressa retinenda disponiert (III, 433), fo dag wir deshalb
interdum etiam somniorum recordamur. Auch nach 1641
lägt fidi unfere Auffaffung belegen: La memoire des
dioses materielles depend des vestiges qui demeurent
dans le cerueau , apres que quelque image y a este im-
primee (IV, 114). Ferner V, 192, 219 und 222. 3. Neben
diefem körperlichen Gedächtnis findet fidi im Menßhen
noch (encore III, 143) die memoire spirituelle, die gänz-
lich (tont a fait) geiftig ift und deren wir als vollent-
wickelte Menfchen uns vornehmlich bedienen. III, 48 nennt
fie D. tout intellectuelle, qui ne depend que de Tarne
seule. La memoire intellectuelle, fagt er III, 84, a ses
especes a part, qui ne dependent nullement de ces plis
(sc. dans le cerveau). Sein Unterfchied vom körperlichen
Gedächtnis kann nicht darin gefunden werden, wie Kodi
Digitized by
Google
— 35 -
<175 — 178 und 235) es will, dag das intellektuelle ein be-
wußter Akt der Hinwendung zu einem Gehirnrefiduum,
-das körperliche ein Beftimmtwerden der Seele durch die
{jehirnfpuren fei; dag auch der erfte Vorgang ein Akt des
körperlichen Gedächtniffes ift, beweift III, 425, wo nicht bloß
1. ab obiectis externis in Organa sensuum agentibus oder
2. a spiritibus animalibus a corde ad cerebrum ascenden-
tibus Bewegungen der Lebensgeifter bewirkt werden, fon-
dern auch noch 3. ab ipsa raente, cum scilicet ad aliquam
^ogitationem a propria tantum libertate impellitur, ein
vestigium im Gehirn bewirkt wird, ex quo recordatio
dependet, und diele auf eine dreifache Art zuftande ge-
kommene recordatio cum mens corpori unita de recor-
porea cogitat, in einem fcharfen Gegenfaß zum gei-
ftigen Gedächtnis geftellt wird: de rebus vero pure
intellect ualibus nulla proprie recordatio est. Die
Unrichtigkeit der KochTchen Auffaffung geht auch aus dem
Beileidsfchreiben des D. an Huygens anläßlich des Todes
feines Bruders hervor, wo er III, 580 in der Natur un-
terer Seele eine Bürgfdiaft der Unfterblichkeit und des
einftigen Wiederfindens erblickt, eines Wiederfehens meme
auec la souuenance du passe; car je trouue en nous une
memoire intellectuelle, qui est assurement indepen-
«lante du corps. Doch erft 1644 (IV, 114) kommen
feine fihon 1640 (III, 84) geäußerten Anfchauungen zur
Klärung: „Das Gedächtnis der materiellen Dinge hängt
von den Spuren ab, die im Gehirn bleiben, nachdem doit
eine Art Bild eingeprägt ift; das der intellektuellen Dinge
von gewiffen anderen Spuren, die in der Seele
felbft bleiben. Aber diefe find von einer ganz
anderen Art als jene und ich würde fie durch
kein von körperlichen Dingen gezogenes Bei-
fpiel erklären können, das nicht fehr verfchie-
den wäre." Die knappfte und präzifefte Formulierung
findet er 1648 (V, 192): „Ich nehme eine doppelte Ge-
Digitized by
Google
— 36 -
däditniskraft an; im Geilte eines Kindes find niemals reine*
Gedanken (intellectiones purae), fondern nur verworrene
Gefühle (confusae sensationes)" und erläutert fie V, 219:
Um uns einer Sache zu erinnern, genügt es nicht, dag
fie unterem Geilte vorher vorgefdiwebt hat und einige
Gehirnfpuren zurückgelaffen hat, durch deren Veran-
laffung fie nochmals in unterem Bewußtfein auf-
taucht, fondern es ift noch obendrein erforderlich, dag,
wenn fie zum zweiten Male aufflögt, wir erkennen, dag
dies deshalb gefdiieht, weil fie vorher in unterem
reinen Denken gewefen ift (a nobis fuerit per-
c e p t a) . . . Daraus erhellt , dag zum Gedächtnis n i di t ge-
nügen irgendwelche Spuren, die von den vorhergehenden
Gedanken im Gehirn zurückgelaffen find, fondern we-
nigftens folche von der Art, dag der Geilt erkennt, daß
fie nicht immer in uns gewefen find, fondern einmal von»
neuem hinzugekommen feien. Damit aber die Seele dies
erkennen kann, halte ich dafür, dag fie, als fie zum erften
Male eingedrückt wurden, eine reine Verftandstätig-
keit hat anwenden muffen, darauf nämlich, dag fie be-
merkte, die ihr damals vorßhwebende Sache fei neu
oder habe ihr bis dahin nicht vorgefdiwebt ; denn keine
körperliche Spur kann von jener Neuheit
fein. Darauf vergleicht er, wozu er 4 Jahre vorher fleh
augerftande erklärt hatte (f. v. S.), diefe geiftigen im-
pressiones mit den von menfchlichen Fügen berührenden
Unebenheiten eines Raumes, worin wir eine eigentlich
eingedrückte Fugfpur nicht bemerkten, und die doch in
einem anderen Sinne Fugfpuren genannt werden könnten. —
Alle genannten Stellen, die fich über einen Zeitraum von
8 Jahren (40 — 48) erftrecken, (teilen übereinftimmend das
intellektuelle Gedächtnis als einen Modus des reinen
cogitare hin, das ebenfo wie das pure intellegere und
pure velle, in der anima allein, nicht im conjunctum radi-
ziert und deffen Objekt die reinen Gedanken (intellectiones;
Digitized by
Google
— 37 —
purae) find und das nicht der materiellen impressiones in
cerebro zu feiner Aktualifieruhg bedarf, dem vielmehr
eigene pfychifche Refiduen, impressiones in anima ipsa,
vindiciert werden. Sehr gut bemerkt Keugen (49), der
dem intellektuellen Gedächtnis ebenfalls feine Aufmerk-
famkeit gewidmet hat, zu den pfydiifdien Refiduen des D.,
die „im Bewugtfein Verharren" : „Der darin liegenden
Konfequenz ift er nidit nachgegangen, dag es in der Seele
unbewugt Pfychifdies gebe, und zwar ein unbewugt Pfy-
diifthes, das durch untere Entwicklung erft erworben
werde." Auf jeden Fall aber können wir fehen, wie nahe
D. dem Begriffe geftanden hat, wenn wir es uns auch
„jedenfalls nidit als ein verfchleiert Bewugtes vorftellen
dürfen. Denn den Widerfinn unbewugter Empfindungen
oder Vorftellungen hat D. ausdrücklich abgelehnt." (ibid.)
Es erfdiien angezeigt, das Gedächtnis bei D. fo aus-
führlich zu behandeln, einmal deshalb, weil feine Regeln
wie feine dogmatifdien Hauptwerke es überhaupt nicht
erwähnen, mithin feine Briefe geeignet find, gerade hier
eine fühlbare Lücke auszufüllen; fodann weil die fekun-
däre Litteratur mit Ausnahme von Koch und Boutroux
die Frage nicht angefdinitten hat. Gegen Koch, dem
übrigens, wie ausdrücklich konftatiert fei, noch nicht die
neue Briefausgabe zur Verfügung ftand, haben wir fchon
oben Stellung nehmen muffen. Aber auch bei Bou-
troux flogen wir auf Migverftändniffe, die daraus zu er-
klären find, dag ihm III, 424 und 580 (cf. 16 u. 17 Anm.)
entgangen find und IV und V zur Zeit der Abfaffung
feiner Arbeit noch nicht vorgelegen haben. Wenn Bou-
troux (16) das körperliche Gedächtnis mit einem Buche
vergleicht, worin alle einmal von uns percipierten Bilder
eingetragen find und worin der Verftand frei lefen kann,
das intellektuelle mit einem Magazin, worin diefe Begriffe
sur le meme plan zu unterer Verfügung ftänden, fo treffen
diele Vergleiche trog ihrer Anfchaulichkeit nicht den Kern-
Digitized by
Google
- 38 —
punkt der Frage. Zuftimmung erheifdit feine Bemerkung,,
dag es lehr fdiwierig ift zu verftehen, wie D. fidi diefes
int. Gedächtnis vorftellt; Wideriprudi die weitere: „Die-
Briefftellen, worin es erwähnt wird, verhindern keines-
wegs zu glauben, dag es in praxi ungenügend ift und
mit dem körperlichen Gedächtnis verbunden werden
mug"; fie mug dahin eingefchränkt* werden, dag die re-
cordatio auf Grund des körperlichen Gedächtniffes hödiftens
den Anlag bilden kann zur Betätigung des intellek-
tuellen und mit ihm verbunden fein kann: nisi quod
(sc. res pure intellectuales) soleant nominibus quibus-
dam alligari, quae cum corporea sint, de ipsis etiam
recordamur (III, 425); an der prinzipiellen Selbftändig-
keit und Alleintätigkeit feines cogitare und mithin feines
int. Gedächtniffes lägt D. von 1638 an (II, 38 ad 4) keinen
Zweifel (cf. II, 580, III, 374, Z. 24 ff.).
Als irreführend mug auch die Boutrouxfdie Dar-
fteilung (S. 16 f.) bezeichnet werden, wie D. zur Aufftellung
feiner Lehre vom körperlichen und intellektuellen Ge-
dächtnis gelangt fei. „Er will erft das Gedächtnis in
einem kleinen Teile des Hirnes lokalifieren; bei der Un-
möglichkeit zu erklären, wie eine fehr groge Zahl von
Bildern in einem fo engen Räume aufbewahrt werden,,
lägt er fle fodann im ganzen Gehirn, in den Nerven und
Muskeln ihren Sig auffchlagen, und fchlieglich fügt er ihnen
noch ein zweites Gedächtnis hinzu, das intellektuelle, deffen
wir uns nach feiner Ausfage am häufigften bedienen. Das
körperliche Gedächtnis ift dann fchlieglich nur noch die
Gewohnheit, gewiffe Bewegungen auszuführen/' Um mit
dem legten zu beginnen, distinguo: Das körperliche
Gedächtnis im engeren Sinne, das ja auch im Menfchen
fein kann, ja; das körperliche Gedächtnis im weiteren
Sinne, nein; und diefes ift es doch, worin D. gerade den
Unterfchied zwifchen Menfdi und Tier fegt. Denn dag den
Tieren das intellektuelle Gedächtnis nicht beigelegt werderL
Digitized by
Google
— 39 —
kann, fleht von vornherein und eo ipso außer Frage.
Boutroux macht fldi hier der gleichen Verwechfelung
des körperlichen Gedächtniffes im engeren und weiteren
Sinne fchuldig wie Hoffmann (379), der unter Berufung
auf premieres pensees sur la generation des animaux
(Cous. XI, 596): „Die Tiere haben wie wir la memoire
des objets materiels" und weiterhin auf X, 208, wo er
ihnen Leben und Empfindung zufpräche, autant qu'il de-
pend des organes du corps, D. Widersprüche vorwirft,
während der Sinn der Säge fofort harmoniert, fobald wir
hier unter Gedächtnis das körperliche Gedächtnis im
engeren Sinne verftehen. Direkt unrichtig aber ift die
Boutrouxfihe Darfteilung der genetifihen Entwicklung
der Lehre vom Gedächtnis bei D., als fei D. unter dem
Drucke des Zwanges „der Unmöglichkeit einer Erklärung
für die groge Zahl von Bildern in einem fo engen Räume"
erft nach und nach von der Zirbeldrüfe zum ganzen Ge-
hirn, zu den Nerven und Muskeln und fchlieglich zum int.
Gedächtnis gekommen. Denn 1. widerfpricht dem die
Tatfache, dag D. gleich bei feinen erften brieflichen Aus-
führungen über die Zirbeldrüfe (29. Januar 1640, III, 19 f.)
die Bilder in das ganze Gehirn, die Nerven und Mus-
keln verlegt (20, Z. 8: les especes sont principalement
recues en toute la substance du cerveau, ferner Z. 20:
dans les muscles de ses mains) und fchon zwei Monate
fpäter (am 1. April), fofort im nächften Schreiben über
denfelben Gegenftand (III, 48, Z. 27), das intellektuelle
Gedächtnis einführt; 2. entfpricht die Dreiteilung des Ge-
dächtniffes genau der Trias, wie wir fle bei sentire, ima-
ginari, appetere kennen gelernt haben, ift alfo im Syftem
D.' tiefinnerlich begründet (cf. Keugen 39 f., 53 f.). Fol-
gende Tabelle möge die Parallelität der D.fihen Dreitei-
lung des Erkenntnisprozeffes veranfchaulichen :
Digitized by
Google
— 40
III. pure intellegere s. percipere
pure velle
memoria intellectualis
IL sentire im weiteren Sinne
imaginari
appetere
memoria corporalis „ „
I. sentire im engeren Sinne
imaginari „ „ „
appetere „
memoria corporalis „ „
D. unterscheidet drei
Stufen des Erkenntnis-
prozesses
rein
psychi-
scher
Natur
wesent-
lich psy-
chischer
Natur
rein
physiolo-
gischer
Natur
3 ^
5"?
nur in der
menschlichen
Seele
im conjunctum
von
Leib und Seele
nur im tierischen
und mensch-
lichen Körper
(Organen und
Nervensystem)
w
*■»
3.3
S-ft
3 Ö.
es
m
2. <T>
i e
CT c/>
§3
N
des betr. rein
physiologischen
Vorganges ad I,
der die Gelegen-
heitsursache
bildet,
äusserer
mechanischer
physischer
Reize
Seine Entste-
hung ist bedingt
durch das Vor-
handensein
nur von innen nach
aussen, weder
veranlasst durch
die Vorgänge ad I
oder II, noch be-
dingt durch äussere
Kausalität, sondern
aus der Seele selbst
erspringend, bew.
von aussen nach
innen und von
innen nach aussen
als Bestimmtwer-
den oder Hinwen-
dung der Seele;
bewusst (fac. pas-
siva sent.)
rein mechanisch
kausal von aussen
nach innen, ohne in
ein menschli-
che sBe wusstsein z.
treten, (fac. a c t i v a
sentiendi)
Er verläuft
als
(höherer)
modus
cogitandi
als
(niederer)
modus
cogitandi
nicht
als modus
cogitandi
W
Digitized by
Google
— 41 —
7. Die zweite Auseinandersetzung mit der
Scholastik (1641/42).
In dem Thefenftreite und den Disputationen des
Regius, des Prof elf ors der Medizin zu Utrecht, eines
Freundes und Schülers D.', die in den Jahren 1641/42
pacem ac incrementum novae academiae communiaque
iuventutis studia perturbatura videbantur (III, 368), wurde
auch unfere Materie berührt, wie Thefen de bove vivo
et mortuo ejusdemque differentia und de bove mortuo
et a daemone moto (ib.) zeigen. Dem Umftande, dag Re-
gius feinen Lehrer fortwährend auf dem Laufenden
hielt und bei ihm Rat holte, verdanken wir einige Äuge-
rungen D.', die allerdings weniger in pofitiver Hinficht zur
Erläuterung feiner Lehre beitragen, in negativer Hinficht
jedoch das Verhältnis zwifchen feiner und der Lehre der
Scholaftik klarzuftellen geeignet find und fomit inhaltlich als
eine Fortfegung der in der Kontroverfe mit Froidmont
vorgetragenen Anflehten gelten können. Unter Berüdc-
fichtigung der Konjekturen Adams u. Tannerys (III,
703) über die Zeitfolge der Briefe 239 und 240 (III, 369
und 370) führen wir aus diefen Briefen folgende ein-
fchlägige Partien an. III, 371: „Nicht billige ich Deine
Meinung, die menfihliche Seele fei dreifach; denn dies
Wort ift in meiner Religion einn Härefie. Und in der
Tat, auch abgefehen hiervon, verflögt es gegen die Logik,
die anima gleichfam als genus zu f äffen, deren species
mens, vis vegetativa und vis motrix animalium feien. Denn
unter anima sensitiva darfft Du nichts anderes verftehen
als die vis motrix, wenn Du jene nicht mit der a. ratio-
nalis verwechfelft. Diefe vis motrix aber unterscheidet fidi
von der vis vegetativa nicht einmal der species nach;
beide aber find toto genere von der mens verfchieden.
Aber weil wir in der Sache nicht auseinandergehen, möchte
ich die Sache fo auseinanderfegen: Die Seele im Menfdien
ift nur eine einzige, nämlich die vernünftige; denn keine
Digitized by
Google
— 42 -
Handlungen find als menfihlidi zu erachten, wenn fle nidit
von der Vernunft abhängen. Die vis vegetandi aber und
corporis movendi, die in den Pflanzen und Tieren anima
vegetativa und sensitiva genannt werden, find zwar auch
im Menfchen, aber fle dürfen in ihm nicht animae genannt
werden, weil fie nicht primum principium leiner Hand-
lungen und toto genere von der a. rationalis verfihieden
find. Die vis vegetativa im Menfchen aber ift nur eine
beftimmte Konftitution der Körperteile . . . und da die mens
o. a. rationalis vom Körper verfihieden ift, fo wird fie
nicht mit Unrecht allein von uns anima genannt." Und
III, 370 beftreitet er ausdrücklich, dag die vis veg. et. sent.
in den Tieren die Bezeichnung anima verdiene, wie die
mens fie im Menfchen verdiene; aber die Menge habe es
einmal lo gewollt, weil fie nicht wiffe, dag die Tiere der
mens entbehrten und deshalb fei der Name anima
aequivoc inbezug auf Menfch und Tier. Auch diefer Brief
verfichert eingangs: Tota nostra controuersia de amina
triplici magis est de nomine quam de re; der Reft kann, um
Wiederholungen zu vermeiden, füglich übergangen werden. 1 )
l ) Es hiesse den Charakter vorstehender Äusserungen voll*
ständig verkennen, wenn wir annähmen, es sei D. ernst mit seiner
Behauptung, es handle sich hier nur um einen Streit um Worte. Die
Konsequenz würde dann die sein, dass er seine Lehre modifiziert
und der scholastischen Lehre von der Tierseele angenähert habe.
Koch und Otten ist ein ähnliches Missgeschick bezüglich des
Briefes an Regius vom Januar 1642 (III, 491) passiert, trotzdem D*
die Tendenz desselben S. 492 expressis verbis signalisiert: Nunc
curandum est, ut quaecumque vera proposuisti, quam modestissime
defendas, et siquae minus vera, vel tantum minus apte dicta, elapsa
sint, absque ulla pertinacia emendes . . . aperte fatearis te illum scolae
terminum non recte intellexisse. Schon Dezember 1641 (III, 460)
hatte D. geschrieben : Vix quicquam durius et quod maiorem offensae
ac criminationis occasionem dar et, in thesibus tuis ponere potuisses,
quam hoc: quod homo sit ens per accidens; nee video, qua
ratione melius possit emendari (!), quam si dicas, te consi-
derasse etc. Indem nun Koch und Otten trotz dieser Signale die
Digitized by
Google
— 43 —
Es tritt hier ein doppeltes Beftreben D.' zutage: ein-
mal will er ein grobes Mißverständnis feiner Lehre bei
feinem Schüler befeitigen, fodann aber gilt es, feiner
Lehre eine Faffung zu geben, die dem Voetius und fei-
nem fdiolaftifdien Anhange nur wenig Angriffspunkte
bietet. Beides erreicht er dadurch, dag er die Bezeich-
nung anima rationalis beibehält, aber ftatt anima sen-
sitiva et vegetativa die vis sens. und veg. einführt.
D. war aber weit entfernt, feine Seelenlehre der ftho-
laftifchen zu nähern, die Thomas - dem D. wohlbe-
kannt, denn deffen Summa und die Bibel bildeten D/
ganze Bibliothek (III, 629) - S. th. p. I, qu. 76, a. 4 in
die Worte zufammenfagt: eadem numero est anima in
homine sensitiva et intellectiva et nutritiva . . . anima in-
sophistische Unterscheidung des accidentären Seins in ein absolutes
und relatives (tantum u. quodammodo acc.) für bare Münze nehmen,
kommen sie zu dem ungeheuerlichen Schlüsse, D. habe sich veran-
lasst gesehen, seine Annahme von der substantiellen Vereinigung
von Leib und Seele einzuschränken (Otten 67) bezw., die Prädi-
kate zur Bestimmung von Leib und Seele seien bereits so schwan-
kend geworden, dass D., um weiteren Einreden und Widersprüchen
zu begegnen, sich zu einer weiteren Unterscheidung getrieben sähe
und urplötzlich nach Form und Methode zu scholastizieren [begänne
(Koch 97). Die ganze Korrespondenz D/ im Thesenstreite zwischen
Regius und Voetius zeigt zur Genüge, dass alle nach Form und
Inhalt verfänglichen an die Scholastik anklingenden Äusserungen D/
nur gemacht sind, um dem Regius eine Brücke zu bauen, und
seinen Schüler aus einer Lage zu befreien, wohin ihn jugendliche
Unbesonnenheit und Unklugheit gebracht hatte. Die inkriminierten
Stellen beweisen für die positive Lehre D. J gar nichts, es kann aus
ihnen nur geschlossen werden, dass D. auch auf dem Gebiete diplo-
matischer Gewandtheit und spitzfindiger Sophistik seinen Meister
sucht.
Dieser aus den späteren Briefen zwischen D. und Regius
gewonnene Massstab ist mithin auch an unsere beiden 239 u. 240^
oder wie A. u. T. will, drei Briefe zu legen, die im Anfange des
Thesenstreites gewechselt wurden.
Digitized by
Google
— 44 —
iellectiva continet in sua virtate, quidquid habet anima
sensitiva brutorum, nutritiva plantarum. Bezüglich der
fcholaftifchen Formeln vis augmentativa und sensitiva ift
-allo hier bei D. die Vorftellung fernzuhalten, dag hinter
dielen Potenzen irgend eine anima vegetabilis o. sensibilis
ftände. D/ anima rationalis erfüllt nach wie vor nicht die
Funktionen der anima sensitiva und vegetativa, wie in der
Scholaftik, und die operatio a principio intrinseco der
Pflanzen- und Tierleele im Gegenfage zur operatio a prin-
cipio extrinseco der motiones corporum non animatorum,
wie lie Thomas S. th. I, 78, 1 unterfcheidet, deckt lieh
nicht mit der D.fchen Auffaffung eines nur graduellen
Unterschiedes zwilchen dem corpus inanimatum und ani-
matum, womit die formae substantiales der Tier- und
Pflanzenleele über Bord geworfen wurden.
Das Bemühen D.', dielen Kernpunkt der Kontroverle
— Verwerfung der fubft. Formen — in den Hintergrund zu
fchieben, eine Methode, die er nicht nur in leinen
Hauptfchriften, fondern auch in leinen Briefen Feinden wie
Freunden gegenüber befolgt, fo 1638 Morin (II, 200)
und 1640 Merfenne (III, 211) gegenüber — wurde durch
den von Voetius infolge der neuen Regiusfihen
Theien vom 8. Dezember 1641 erregten Dezemberfturm
vereitelt. Gar ungnädig fährt der Meifter leinen Schüler
an (III, 492) : „Was hatteft Du es nötig, die Iubftantiellen
Formen und realen Qualitäten zu verwerfen? ErinnerftDu
Dich denn nicht, dag ich in Meteoris pag. 164 mit ganz aus-
drücklichen Worten erklärt habe, diele würden keineswegs
von mir verworfen oder geleugnet, fondern nur nicht
benutzt, um meine Gründe auseinanderzulegen? Aber
was gefihehen ift, kann nicht ungefchehen gemacht wer-
den. Nun ift Sorge zu tragen, dag Du das, was Du
Wahres aufgeftellt haft, in möglidift befdieidener Form
verteidigft." Und fo gibt lieh denn D. fchweren Herzens da-
ran, direkt die Iubftantiellen Formen und aktiven Quali-
Digitized by
Google
— 45 —
täten der SchoJaftik zu bekämpfen, doch hält er mit feinem
Namen forgfältig (I. III, 494, Z. 8 — 14) zurüde und über-
mittelt dem Regius feine Anflehten zur weiteren Ver-
wertung. Aus feinen Ausführungsn betr. die in untere
Materie einfehlägigen formae substantiales fei folgendes
hervorgehoben.
Zunächit definiert D., um jegliche Zweideutigkeit zu
vermeiden, dag unter forma substantialis, wie er fle leug-
net, er verfteht : substantiam quandam materiae adiunetam
et cum ipsa totum aliquod mere corporeum componentem,
quaeque non minus, aut etiam magis quam materia, sit
vera substantia, siue per se subsistens, quia nempe dici-
tur esse Actus, illa vero tantum Potentia. Dag D. hier
unter formae subst. in rebus mere corporalibus die Tier-
feelen mit im Auge hat — die übrigens nach Thomas S.
th. I, 57, 3 cum per se non operentur, non sunt sub-
sistentes — ergibt fleh daraus, dag er den von Voetius
mit Berufung auf Gen. 1,21: Creauit Deus cete grandia et
omnem animam viuentem atque motabilem, quam produxe-
runt aquae in species suas et omne volatile seeundum genus
suum etc. angetretenen theologifthen Beweis für die Er-
örterung derartiger von der Materie verfihiedenen Sub-
ftanzen nicht für ftichhaltig hält.
Voetius hatte fodann eingewandt (III, 503): Wenn
wir die subftantiellen Formen in rein materiellen Dingen
leugnen, können wir fogar zweifeln, ob ein folche fleh im
Menfchen findet. Auch können die Irrtümer derer, die
eine allgemeine Weltfeele oder etwas Ahnliches annehmen,
nicht fo glücklich und fleher zurückgewiefen werden, wie
es die Vertreter diefer Formen vermögen.
Im Gegenteil, meint D., die Annahme der f. s. könne
leicht ein Hingleiten zur Meinung derer bewirken, die die
menfehliche Seele für körperlich und fterblich erklären.
Wird aber diefe als die einzige f. s. hingeftellt, während
die übrigen nur in der Geftaltung der Teile und der Be-
Digitized by
Google
— 46 —
wegung beliehen, fo zeigt dieler überaus große Vorrang
vor den übrigen, dag fle der Natur nach wefentlidi von
jenen verfchieden ift, und dieler wefentliche Unterfchied
eröffnet den leiditeften Weg für ihre Unkörperlidikeit und
Unfterblidikeit.
Dem wefentlichen Unterfihied der Sdiolaftik zwifdien
Automat und Tier ftellt er fihlechthin feinen graduellen
gegenüber, (III, 504, f. auch 266: valde tarnen facit differre
secundum magis et minus) und die von Voetius mit
großem Autoritätenapparate aufgeftellten drei rationes,
quae a formarum assertoribus adferri solent, erledigt er
mit einer Handbewegung: „Rationes omnes ad probandas
formas substantiales applicari possunt formae horologij,
quam tarnen nemo dicet substantialem (III, 505), gibt fo-
dann aber (ibid.) ausführlidi zwei Gründe oder phyfifdie
Demonftrationen gegen die f. s. an, womit er einer For-
derung des Voetius (f. III, 525, Anm. zu pag. 505 1. 7)
entfpradi. Den erften entnimmt er der Theologie :
„Es dürfte wohl vollftändig widerfinnig fein, daß eine
Subftanz von neuem exiftiert, wenn fie nicht von neuem
von Gott erfdiaffen wird. Wir fehen aber täglich viele
von jenen Formen, die fubftantielle genannt werden, von
neuem anfangen zu fein, obwohl diejenigen, die glauben,
es feien Subftanzen, nicht meinen, fie würden von Gott
gefdiaffen. Dies wird beftätigt durch das Beifpiel der
Seele, welche die wahre fubftantielle Form des Menfchen
ift; denn diefe wird, wie man glaubt, aus keinem anderen
Grunde unmittelbar von Gott erfdiaffen, als weil fie eine
Subftanz ift. Folglich darf man, da man glaubt, dag die
anderen nicht auf diefelbe Weife gefdiaffen werden, fon-
dern nur aus der Potenz der Materie entftehen, auch
nicht annehmen, es feien Subftanzen. Und hieraus geht
hervor, dag nicht die, welche die fubftantiellen Formen
leugnen, fondern vielmehr ihre Vertreter durch gediegene
Digitized by
Google
— 47 —
Folgerungen dahin geführt werden können, dag fie ent-
weder Tiere oder Gottlofe werden" (III, 505).
Der zweite Beweis liegt auf metaphyflfchem Gebiete
und geht aus von dem Zwecke oder dem Gebrauche der
fubltantiellen Formen:
„Denn lie find nur aus diefem Grunde von den Philo-
fophen eingeführt, um durch fie eine Erklärung der den
Naturdingen eigenen Handlungen geben zu können, wo-
von diele Form Prinzip und Wurzel fein foll. Aber auch
nicht eine natürliche Handlung findet in jenen fubftan-
tiellen Formen ihre Erklärung; geftehen doch ihre Ver-
treter, fie feien dunkel und ihnen unverftändlich. Denn
wenn fie fagen, eine Handlung geht hervor aus ihrer fub-
ftantiellen Form, fo ift das dasfelbe, als ob fie fagten, fie
ginge hervor aus einem von ihnen nicht eingefehenen
Etwas, womit nichts erklärt ift. Alfo dürfen jene Formen
für die Erklärung der Urfadien der natürlichen Handlungen
in keiner Weife eingeführt werden" (III, 506). —
Drei Gründe veranlaffen uns, mit diefen polemifdien
Erörterungen unteren Gang durch die Briefliteratur vor-
läufig zu beenden. Erftens fdieint das beigebrachte Mate-
rial fowohl nach feiner negativen Seite hin — Kampf
gegen die Lehre der Sdiolaftik — als auch nach feiner
pofitiven Seite hin zu einem proviforifchen Abfchluß und
zur Fixierung der bisherigen Ergebniffe auszureichen.
Wir glauben uns zweitens hierzu berechtigt, weil am 28.
Auguft 1641 — alfo im felben Jahre, in dem wir Halt
machen — bei Soly in Paris die lat. Ausgabe der Medi-
tationen erfcheint, alfo auch vom Standpunkte der hifto-
rifchen Entwickelung des D.fdien Syftems als Ganzen kein
Einwand erhoben werden kann. Endlich bringen uns die
folgenden 4 Jahre 42—45, wenn wir von den bereits im
Vorbeigehen verwerteten geringfügigen und gelegentlichen
Äugerungen III, 479 (an Gibieuf 42), III, 504, 566 (an
Regius 42), IV, 64 (an Buitendijk 43), IV, 117 (an
Digitized by
Google
— 48 —
Mesland 44) abfehen, nichts Einlchlägiges, ein Beweis,,
dag auch im Denken D.' felbft unlere Frage zu einem ge-
wiffen Stillftand gekommen ift. Dieler Umftand in erfter
Linie ladet zu einem kurzen Rüde- und Ausblick ein.
III. Rück- und Ausblick.
1. Kritik des gehobenen Materiales.
Vergegenwärtigen wir uns kurz die hiftorifche Genefls
der D.Idien Auslaffungen, fo fehen wir, wie er 1637 im
Discours in Form eines referierenden Auszuges aus fei-
nem Monde in wenigen aber wuchtigen Strichen die Kon-
turen feines Syftemes hinwirft : Verwerfung der Tierfeele,
mechanifche Erklärung des tierifchen Lebens. Erft nach
und nach trägt er die Einzelheiten hinein und arbeitet
das Bild in feinen Feinheiten heraus: 37 noch Hellt er
das tierifche Empfinden klar, 38 die Affekte und Leiden-
fchaften, 39/40 die Strebungen und Imaginationen, 40 end-
lich das Gedächtnis. Alle Äugerungen fallen in die Zeit
zwifdien dem Erfcheinen feiner erften beiden Hauptwerke,
des Discours und der Meditationen, und werden eröffnet
und gefchloffen — Discours = Fromondus und Re g i u s
— durch die Ablehnung der fubftantiellen Tierfeele.
Gewig ift zuzugeben, dag diefe äugere Reihenfolge,
wie fle uns in den Briefen entgegengetreten ift, veranlagt
und bedingt ift durch die Anfragen und Einwürfe der
Korrefpondenten ; trogdem erfcheint es nicht angängig, fle
für eine rein äußerlich zufällige zu halten: Wie käme fonft
das sentire, das D. durch das ihm aus der Dioptrique ge-
läufige Beifpiel des videre erläutert, an die Spige zu
ftehen und die memoria, vielleicht die fchwierigfte Materie
unter den modis cogitandi, ans Ende? Bei dem videre
Digitized by
Google
- 49 —
bewegte fleh der Entdecker und Erklärer der Refraktion,
der Kurz- und Weitflditigkeit, der Erfcheinung der Nach-
bilder, des Aufrechtlehens, der Akkomodationsfähigkeit der
Augenlinien auf bekanntem Terrain; vorflditig fegt er
Schritt vor Schritt, gleichfam taftend, feinen Fug weiter,
legt Bauftein auf Bauftein auf die Grundmauern des Dis-
cours. Er erörtert nur den Punkt, worum es üdi gerade
handelt und läßt fleh weiteres nicht ablocken, nicht ab-
ringen. Alles ein Beweis, dag leine Theorie noch im
Werden begriffen ift, dag wir noch kein allfeitig abge-
fdiloffenes und in fleh gefchloffenes Syftem vor uns haben.
Das zweite Charakteriftikum der vorgetragenen An-
flehten ift die polemildie Tendenz gegen die Lehre
der Schule. Im Discours verhüllt aus opportuniftifchen
Rückfichten, tritt fie 41/42 beim Thefenftreit des Regius
offen zutage. Der indirekte Kampf gegen die Sdiolaftik
ift auch der rote Faden, der fidi durch die detaillierten
Äugerungen hindurchzieht. Freilich ftimmen Sdiolaftik und
D. in wichtigen Punkten überein: beide Iprechen das hö-
here Erkenntnis- und Strebevermögen oder das reine
Denken und Wollen, das intellektuelle Gedächtnis, Willens-
freiheit und Unfterblidikeit den Tieren ab. Trogdem ift
der aus taktifchen Gründen abgegebenen Verfidierung des
D., es handle fidi mehr um einen Streit um Worte als
um Dinge, nicht beizupflichten. Denn durch die Ablehnung
der fubftantiellen Tierfeele wird — wenigftens foweit wir
jegt fehen können — nicht nur das ^ox;, fondern auch das
oxi berührt. Nicht nur in der Frage: „Wie ift das tie-
rifdie Leben und leine Äugerungen zu erklären?" fondern
auch in der tatfächlidien Unterlage, was eigentlich da&
Wefen der tierifdien Lebenserfiheinungen ausmacht,
öffnet fidi vor unfern Augen eine tiefe Kluft. D. kennt
zwifdien der blogen Maßhinentätigkeit der von ihm ent-
deckten Reflexbewegungen und den motus spontanei, den
durch Zielvorftellungen ausgelöften intelligenten Hand-
4
Digitized by
Google
— 50 —
lungen, kein Mittleres: Der Menfdi allein handelt bewußt
zweckmäßig, die tierifihen Handlungen folgen mit unab-
änderlicher Notwendigkeit aus den phyfiologifdien Nerven-
reizen, automatifch, ohne daß das Tier in der Lage wäre,
öe durch irgend eine Selbftbetätigung zu modifizieren.
Die Scholaftik hingegen nahm in den Tieren den Inftinkt
an, d. h. um hier die Wasmannfdie Definition (S. 21)
zu gebraudien , eine erbliche zweckmäßige Anlage des
finnlichen Erkenntnis- und Strebevermögens, einen finn-
lidien Trieb, der zu Tätigkeiten anleitet, deren Zweck-
mäßigkeit zwar außerhalb des Erkenntnisbereiches des
betreffenden Tieres liegt, der es aber befähigt, feine
finnlichen Empfindungen und Vorftellungen mehr oder
minder felbfttätig auszunutzen. Die unvergleichlich höhere
Vollkommenheit der von Gott und der Natur verfertigten
Tiermafchine vermag nicht die Kluft zwifchen den Tätig-
keiten diefer und des Inftinktes auszugleichen, wenn auch
D. und die Scholaftik in den beiden extremen Punkten:
Der Menfch allein handelt bewußt zweckmäßig, das Tier
nur ohne Bewußtfein des Zweckes der Tätigkeit und des
logifchen Zufammenhanges zwifchen Handlung und ihrem
Refultate, übereinftimmen.
Gleichwohl wäre es übereilt, fihon jefet zu einem de-
finitiven Urteil über D.' Lehre gelangen zu wollen. Das
verbietet einmal ihr fragmentarif eher Charakter.
So hat D. z. B. noch gar nicht angefchnitten die Frage
nach dem „Gemeinfinn" der Tiere, den er beim Men-
fchen in die glandula pituitaria lokalifiert (III, 263), „die
fich findet zwifihen Herz und conarium, von wo die
Schlagadern mehrere Arme ausfenden. Denn es muffen",
erklärt D. weiter an unterer Stelle, „dort die größten Teile
des Blutes von den kleinften getrennt werden, die dann
allein durch die am meiften rechts liegenden Arme diefer
Schlagadern bis hinauf zum Gehirne fteigen, wo das cona-
rium ift. Und diefe Trennung kann man fich nur mecha-
Digitized by
Google
— 51 —
nisch vollzogen denken, fo wie Binlen und Schaum, die in
einem Badie fliegen, der fidi in zwei Arme teilt, in den
Arm gehen, wo das Waffer am wenigften in der geraden
Linie fliegt." Wie D. auf Anfrage nach dem Gemeinfinn
der Tiere dielen erklärt haben würde, kann auf Grund
diefer Stelle unter Berückfichtigung des früher bei der
memoire corporelle im uneigentlichen Sinne Gefagten mit
Sicherheit gefdiloffen werden. Anders aber würde die
Sache flehen, wenn wir jegt Stellung nehmen follten zu
der Frage, die v. Berger aufgeworfen hat: „Hielt D.
die Tiere für bewugtlos?" Zur Beantwortung diefer
Frage genügt u. E. das bis jegt gehobene Material kei-
neswegs, da es den Stempel feiner Herkunft zu deutlich
an fich trägt. Denn — und damit kommen wir zur vierten
<harakteriftifihen Eigentümlichkeit unlerer bisherigen Er-
hebungen — D. hat bisher nicht, wie er öfters verfpro-
<hen, die tierifdien Lebensvorgänge von unten herauf, aus
der dispositio organorum mechanifih-kaufal bis in die
legten Ausläufer erklärt, fondern feine Erörterungen
gehen von oben nach unten, nehmenden entwickelten
Menfchen, das menfchliche cogitare und feine
modi zum Ausgangspunkte und ftellen nun per ex-
clusionem feft, nicht fo fehr was z. B. das tierifdie sentire
ift, fondern was es nicht ift, dag es kein men fehl ich es
sentire sive cogitare ift. Und wenn nun D. auch auf
diefer via negationis zu dem gemeinfamen phyfiologifchen
Unterbau des tierißhen und menfehlichen sentire kommt,
f o ift mit der Verneinung und dem Ausßhlug der dem Men-
fchen eigentümlichen höheren Stufen nur der Rohbau der
Struktur gegeben, diefe felbft aber bis in ihre Feinheiten
und Beziehungen zu einander noch nicht erfchöpfend be-
handelt. Die forgfältig abgewogene Ausdrucksweife D.',
fein einleitend ausgefprochener Wunfih, ihm niemals eine
Meinung zuzufchieben, die er nicht expressis verbis ge-
äugert, zeigen klar, dag D. weit davon entfernt war,
4*
Digitized by
Google
— 52 —
Behauptungen ohne reifliche Erwägungen auszusprechen,,
und leine Lehre bietet mehr als einem Punkte den Be-
weis — wir erinnern nur an den „Okkaflonalismus D. ,w —
dag dort, wo er bereits unrettbar in ein Extrem zu ver-
fallen fdieint, er durch eine plötzliche überrafchende Wen-
dung fleh den vermeintlichen Konfequenzen feiner Lehre
entzogen hat.
2. Orientierung am Begriff „cogitare".
Es fdieint uns, bevor wir an die weitere Hebung des
nach Erfcheinen der Principia lieh findenden Brief materiales
gehen, hier der Ort zu lein, in eine Beiprechung der Ent-
wicklung des Begriffes cogitare = penser bei D. einzu-
treten. Denn es ift anzunehmen, dag diefer Begriff bei
D. nach 1644 zu einem gewiffen Abfchlug in feiner Ent-
wickelung gekommen ift. Ein Migverftändnis diefes Zen-
tralbegriffes der D.fchen Pfychologie würde aber bei der
kritifchen Interpretation der bereits vorgeführten und noch
mehr der noch ausftehenden Stellen verhängnisvoll fein.
„In der Tat", lagt Trognife, „hat D. durch Aufftellung
feines cogito, um im Sinne feiner analytifdien Geometrie
zu fprechen, das fefte Koordinatenfyftem hingeftellt, auf
welches fleh alle feine philofophifdien Unterfuchungen be-
ziehen. Denn es findet hier dasfelbe ftatt, wie in der
analytifdien Geometrie, welche die Flächen und Linien
nur ftudieren kann unter Zugrundelegung eines feften
Axenfyftemes."
Verfolgen wir zunächft D.' Definitionen des cogitare bis
zum Erfcheinen der Meditationen. Schon bei der tierifchen
Empfindung haben wir unter Bezugnahme auf I, 366 und
II, 36 feftgeftellt, dag D. nicht blog das reine Denken und
Wollen, fondern auch das Einbilden, Empfinden, Begehren
als verfäiiedene Arten (faejons) des cogitare fagt, info-
fern fie von der Seele abhängen. II, 38 nennt er
das „Gefühl oder die Meinung", dag man atmet, einen
Digitized by
Google
- 53 -
<Jedanken. April 41 drückt er fichMerfenne gegenüber
fihon klarer aus: „In dem einen Sinne fchließe ich die
Einbildungen in den Begriff der cogitatio oder des Den-
kens ein, in einem anderen fchliege ich fle aus: Die Bilder
oder körperlichen Spezies, die im Gehirn lein muffen, So-
bald wir etwas anfdiauen, find keine cogitationes; aber
die Handlung des einbildenden oder auf jene Spezies lieh
hinwendenden Geiftes ift cogitatio" (III, 361). Aus der
Antwort auf die vom empirifchen Standpunkt aus erho-
benen Einwände des Hyperaspistes (III, 422 ff.) entnehmen
wir für unfere Zwecke die Säfee: Daraus, dag der Geift
in einem Kinde unvollkommener h andelt als in einem Er-
wachfenen, kann nicht gefchloffen werden, dag der Geift felbft
unvollkommener fei (423,11); die menfdiliche Seele denkt
immer, auch im Mutterfdioge (Z. 17); behaupten, die Seele
hätte dann nicht gedacht, wenn fle nicht darauf geachtet
hat, dag fle dachte, heigt behaupten, unfer Körper fei
nicht ausgedehnt, wenn wir nicht bemerken, dag er Aus-
dehnung gehabt hat (Z. 24); die mit dem Körper des
Kindes erft kürzlich vereinigte Seele ift mit dem confuse
Erfaffen der Ideen des Schmerzes, der Freude, der Wärme
etc. befchäftigt, die Gottesidee hat fle nicht weniger wie
die Erwachfenen, wenn diefe nicht darauf merken, erwirbt
iie aber auch nicht bei zunehmendem Alter, fondern
würde fle, wenn fle aus den Banden des Körpers befreit
würde, bei fleh vorfinden (424, 9). Endlich die von
Schaarfchmidt (18) betonte Stelle ep. I, 30, p. 62 Elz.
cogitationis nomine intelligo illa omnia, quae nobis con-
seiis in nobis fiunt, quatenus in nobis conscientia est.
Nach Erfdieinen der Meditationen fchreibt D. (III, 455)
Dec. 41 an Regius: Wie Länge, Breite, Tiefe und das
Vermögen alle Geftalten und Bewegungen anzunehmen
von der Materie oder der Ausdehnung nicht genommen
werden können, fo auch nicht das Denken von der Seele."
Denfelben Gedanken führt er Januar 42 an Gibieuf
Digitized by
Google
— 54 —
(III, 478) wie folgt aus : „Der Grund dafür, dag die Seele
immer denkt, ift der . . . , daß das, was die Natur eines
Dinges ausmacht, immer in ihm ift, folange es exiftiert
. . Und idi lehe hier keine Schwierigkeit, es fei denn,
dag man es als überflüfflg erachtet, zu glauben, fle denke,
wenn uns nicht nachträglich eine Erinnerung hiervon
bleibt." Diefen Einwand widerlegt er dunji die Tatlache
des Unterbewugtfeins, „daß wir alle Nächte taufend Ge-
danken und im Wachen taufend in jeder Stunde haben,
wovon keine Spur mehr im Gedächtnis bleibt und deren
Nufeen wir ebenlowenig einlehen, wie den Nugen der
Gedanken, die wir vor unterer Geburt gehabt haben."
Er fleht ebenlo auch (III, 479) keine Schwierigkeit darin,
dag die Vermögen des Einbildens und Empfindens als
modi des Denkens der Seele eignen, und doch nur hin-
wieder, infofern fle mit dem Körper verbunden ift, weil
es Arten von Gedanken find, ohne die man die Seele
ganz rein begreifen kann. 1644 (IV, 113) fegt er keinen
anderen Unterfchied zwifchen der Seele und ihren Ideen,
als zwifchen einem Stück Wachs und den verfchiedenen
Geftalten, die es empfangen kann, womit er zu Princ. I,
15, 47, 53 überleitet. In legter Stelle klärt er uns über
die amina, über das attributum und die modi cogitandi
folgendermagen auf: Cogitatio est praecipua proprietas,
quae ipsius sc. animae naturam essentiamque constituit
et ad quam aliae omnes referuntur.
Während D. noch in den resp. ad I. obj. (VII, 120f.)
den Unterfchied zwifihen der Subftanz und ihrem Attribut
(z. B. Seele und Denken) als denfelben behandelt, wie den
zwifchen Subftanz und ihren Modis (Seele und Empfinden),
korrigiert er fleh Princ. I, 62 und ftellt Princ. I, 60 — 62 einen
dreifachen Unterfchied auf: 1. den realen zwifihen Subftanz
und Subftanz (Körper und Seele), 2. den modalen und
zwar a) zwifchen der Subftanz und ihren Modis (Seele
und Empfinden), b) zwifihen zwei Modis derfelben Subftanz
Digitized by
Google
— 55 —
(Empfinden und Begehren) und endlich 3. den geringeren
Beziehungsunterfdiied zwifihen der Subftanz und ihrem
Attribute (Seele und Denken). Diefe Untersuchung be-
leuchtet er 1645 oder 46 (IV, 348) an der Hand des Unter-
fchiedes zwifdien Effenz und Exiftenz in einem nach eige-
nem Geftändnis etwas konfulen Briefe von einem neuen
Geflchtspunkte aus, führt fle weiter und vertieft fle, in-
dem er den oben sub 3 genannten Unterfchied rationis
rationatae — unter ausdrücklicher Verwerfung der fdio-
laftifchen distinctio rationis rationantis sine fundamento
in re — dist. formalis nennt, und macht im 3. Teile
dieles Briefes auf die Quelle der Hauptfchwierigkeiten in
dieler Materie aufmerkiam J ). Es ift zweifellos, dag diele
x ) Hiernach würde sich die D.sche Terminologie der Unter-
schiede am Ende ihrer Entwicklung (45/46) in folgendes Schema
fassen lassen:
Distinctio
1. realis 2. rationis rationatae
zwischen Subst. u. Subst. (cum fundamento in re)
(Körper u. Seele)
a) modalis b) formalis
a) zw. Subst. u. ihrem ß) zwischen 2 modis zwischen Substanz u.
modus proprie dictus ders. Substanz ihrem Attribute, ohne
( Seele u. Empfinden) (Empfinden u. Ein- das die Substanz nicht
(Körper u. Gestalt) bilden) sein kann,
(Gestalt u. Bewegung) (Seele u. Denken)
(Körper u. Ausdehng.)
Nur die erste Dist. deckt sich dem Namen und der Sache nach
mit der d. realis maior der Scholastik; die d. modalis hat zwar D.
nicht explicite gleich rationis rationatae cum fundamento in re gesetzt
wie die d. formalis. Dass sie jedoch offenbar einen nur begrifflichen
— wenn auch grösseren als die d. formalis — Unterschied statuieren
will, ist mit Sicherheit aus der historischen Entwickelung seiner
Lehre von den Dist., deren er im Anfange (1637) nur zwei, realis-
sachlich und modalis-begrifflich, annimmt, sowie aus der Ablehnung
der Realität der Akzidenzien und Seelenpotenzen (II, 424, III, 648 und
denselben Wortlaut nochmals im Briefe V, 222) zu folgern. In der
Digitized by
Google
— 56 —
Entwicklung in feiner Lehre von den Diftinktionen nicht
bloß in zeitlichem, fondern auch in urfächlichem Zufammen-
hang fleht mit der Klärung feines cogitare-Begriffes. Wie
fehr feine fpäteren Ausführungen an Schärfe gewonnen
haben, bemerkt man 1648 in der Kontroverfe mit Ar-
nauld: „Das Denken fefet die Wefenheit der Seele, wie
die Ausdehnung die des Körpers, und es ift nicht als ein
Attribut (richtiger wäre Modus) zu verftehen, das vor-
handen fein oder fehlen kann, wie im Körper die Geteilt-
heit in Teile oder die Bewegung." V, 221 nennt er die
erften und einfachen Gedanken der Kinder im Mutterfchoge
direkte, und unterfcheidet fle von der zweiten Perception
des Erwachfenen, der paffiv empfindet und zugleich infolge
der phyflologifchen Vervollkommnung des Gehirns aktiv
inne wird, dag er diefelben früher nicht empfunden hat.
Diefes reflexive Denken, das Bewußtfein unteres Be-
wußt! eins, eine zweite Perceptio [= Erkenntnis oder be-
wußte Wahrnehmung nach Erdmann (524) und Kupka
D.scben d. formalis lebt dem Namen und z. T. auch der Sache nach
die d. f. des Duns Scotus wieder auf, der eine d. f. sive actualis
zwischen Formalitäten (z. B. Animalität und Rationalität) annahm,
die aber von den Thomisten abgelehnt, bezw. als d. realis forma-
rum bezeichnet wird. Mithin nähme die thom. Scholastik bei allen
angeführten Beispielen nur reale Unterschiede an, da nach ihrer Auf-
fassung überall eine „Einheit der Zusammensetzung" vorliegt, d. h.
aktuelle Ungeteiltheit bei potentieller Teilbarkeit. Die d. r. rationatae
des D. ist also durchaus nicht identisch mit der gleichnamigen in der
Scholastik. Diese ist vielmehr rein logischer Natur und findet nur
Anwendung auf das ens simplicitatis, das nicht nur aktuelle, sondern
auch potentielle Teile von sich ausschliesst. Dieses als Ergänzung
zu den Ausführungen v. Hertlings (4). Ludewig operiert
vom Standpunkt der scholastischen Terminologie der Dist. gegen
D., dem er bei der wesentlichen Verschiedenheit der D.schen Termi"
nologie nicht völlig gerecht werden kann. Sehr richtig hat deshalb
D . am Schlüsse unseres Briefes (IV, 350) bemerkt : „Ähnlich laufen
a V.e Kontroversen der Philosophen nur darauf hinaus, dass man
einander nicht gut versteht."
Digitized by
Google
— 57 —
<38)] bezieht er allein auf den Intellekt, obwohl fle mit der
{sc. bewußten) Empfindung (sensatio) lo lehr verbunden
ift, dag beide zugleich gefdiehen und nicht von einander
unterfchieden werden können. Er kommt lodann auf die
Zweideutigkeit („ambiguitas") des Wortes cogitatio
{= denkende Subftanz und Bewußtfeinsmodi) zurück,
die er Princ. I 63 u. 64 zu beieitigen gefacht habe: „Wie
nämlidi die die Natur des Körpers konftituierende Aus-
dehnung fleh fehr von den verfdiiedenen Geftalten und
modis der Ausdehnung unterfdieidet, lo ift auch das
Denken oder die denkende Natur, worin m. E. die Wefen-
heit der menfdilidien Seele befteht, bei weitem etwas
anders, als dieler oder jener Akt des Denkens, und die
Seele hat aus fleh felbft die Kraft, diele oder jene Akte
des Denkens hervorzubringen, nicht aber, dag fle ein
denkendes Ding ift, wie auch die Flamme aus fleh felbft
gleidifam als aus einer Wirkurfadie die Kraft hat, dag fle
nach diefer oder jener Seite fleh ausdehnt, nicht aber daß
fle ein ausgedehntes Ding ift. Unter Denken verftehe
ich alfo nicht irgend ein Allgemeines (universale quid), das
alle modi des Denkens zulammenfaßt 1 ) , londern die
*) Die Kritik des Substanzbegriffes bei Thilo (145): „Der
Modus verhält sich zum Attribut, wie das Besondere zum Allge-
meinen, wie die Unterart zum allgemeinen Begriff' steht also auf
schwachen Füssen. D. will, wie er durch den Zusatz quae reeipit
omnes illos modos und durch den Vergleich mit der Ausdehnung
andeutet, der cogitatio den Charakter eines universale nicht nehmen,
nur dass sie den übrigen universalia (Existenz, Dauer, Grösse, Zahl
etc.) gleichgestellt wird. Sie ist nicht ein beliebiges universale
(univ. quid), sondern das universale xax' igoyrjv, das seinem Bewusst-
seinsmodis nicht gegenübersteht, wie irgend ein genus seinen Species*
sondern sie ist das primäre, wesenhafte, unabtrennbare Attribut der
Denksubstanz, ohne welches die Substanz nicht sein kann, das ihr
ursprünglich ist, — die Seele kann es nicht sich selbst geben — und
worin die einzelnen Bewusstseinsmodi potentiell enthalten sind und
woraus sie durch die der Seelensubstanz von Natur aus innewoh-
nende Kraft aktuell werden können. Vergl. Keussen 24—27.
Digitized by
Google
— 58 —
[urfprünglidie und wefentlidie] Einzelnatur, die alle jene
modi annimmt (naturam particularem, quae recipit omnes
illos modos), wie auch die Ausdehnung die Natur ift, die
alle Geftalten annimmt." Audi leine Unterfiheidung
zwifdien Denken mit Bewugtfein und Denken mit Er-
innerung (V, 221, 26) gehört nodi hierhin: „Etwas anderes
ift es, unterer Gedanken uns bewußt zu fein, zur Zeit, wo
wir fle denken, und etwas anderes, ihrer fleh nachträglich
erinnern; fo denken wir nicht in unleren Träumen, ohne
dag wir fchon im leiben Momente unleres Denkens uns
bewußt werden, obwohl wir es meiftens lofort wieder
vergelten."
Wir haben abflditlidi die Reihenfolge der D.fdien
Äugerungen nicht durch eigene Reflexionen unterbrochen,
um unier Refume am Schluffe ebenfalls im Zulammenhange
geben zu können. Drei Entwicklungsphafen glauben
wir beim Begriff des cogitare feftftellen zu können. Die
Briefftellen der erften Periode (37—41) beftimmen den
Umfang des cogitare (I, 366), fodann wird als das kon-
ftitutive urfprünglidie und unverlierbare Element in allen
pfydiifdien Tätigkeiten das Merkmal des Bewußtieins be-
zeichnet (II, 38, III, 361), endlich behauptet, dag bewußtes
Denken immer, auch im Mutterfihoge vorhanden lei (HI,
423 f). Mit den terminis Attribut, Modus wird überhaupt
noch nicht operiert; die verfihiedenen Grade und Modi-
fikationen des Bewußtieins find nur unklar angedeutet.
Die Zeugnifte der zweiten Periode (41—44) ftatuieren
das Denken als Attribut der Seele und die einzelnen
plydiifihen Tätigkeiten als feine modi, immer in fteter
Parallele mit dem Attribut und den Modis des Körpers (III,
455, 478); die Unterfcheidung der Bewußtleinsgrade und
Klalflfizierung der modi tritt deutlicher hervor (III, 479). In
den Principia und Ipäteren Briefftellen, die uns die dritte
Periode (44—48) reprätentieren, werden die Unterfchiede
zwifihen Seelenfubftanz, Attribut und Modis des Denkens
Digitized by
Google
— 59 —
feiner herausgearbeitet, ferner wird das Bewußtfein, das
in den früheren Perioden fdion nach dem Grade der
modi in Klarheitsgraden abgeftuft erfiheint, in das direkte
und reflexive eingeteilt (V, 221).
So modifiziert nun aber auch D.' Anflehten in den
verfdiiedenen Perioden erfcheinen, in den beiden wesent-
lichen Punkten ift er fleh gleich geblieben:
1. Wie das rein räumliche Sein mit dem Ausgedehnt-
fein zufammenfällt, fo fällt auch alles rein zeitliche Sein^
jede pfydiifche Tätigkeit, mit dem cogitare zufammen;
nicht bloß das reine Denken und Wollen, fondern auch«
die niederen modi wie sentire, imaginari, appetere etc^
gehören zur natura particularis des Denkens und find
nur begrifflich von ihm und untereinander verfchieden.
2. Wie das Vacuum durch die mathematifche Kontinuität
des Raumes ausgefthloffen ift, fo ift auch ein völliges Auf-
hören der rein zeitlich verlaufenden pfychifchen Tätigkeiten?
undenkbar; denn mit dem Aufheben jedes modus wäre
auch das Attribut des Denkens und die nur formal von
ihr unterfchiedene Seelenfubftanz felbft aufgehoben. Da
nun das Bewußtfein das konftitutive Element des Attri-
butes cogitare ift, das je nach dem höheren oder niederen
Grade des modus in höherem oder niederem Klarheits-
grade in jedem modus fleh findet, fo muß jedes Vacuum
im Bewußtfein — wie im Menfihen vor der Geburt, im
Träumen — als eine nur ftheinbare Leere, als ein Minimal-
bewußtfein aufgefaßt werden. In e i n e m modus wenigftens
manifeftiert fleh immer die Denkkraft, und diefer modus
ift felbft dann bewußt, wenn wir nicht darauf achten oder
uns des modus als eines bewußten fpäter nicht erinnern
können.
Würden wir nun verfuchen, das Gefagte mit unferer
Frage: Hielt D. die Tiere für bewußtlos? in Verbindung
zu bringen und vom Koordinatenfyftem des cogitare aus.
Digitized by
Google
— 60 -
zur Beftimmung des Innenlebens der Tiere vorzudringen,
lo 1 die int fleh der Schlug geradezu aufzudrängen: Von
irgend einem auch noch lo unklarem Bewugtiein • lelbft bei
den hödiften Tätigkeiten der Tiere kann ablolut keine
Rede lein. Denn mit dem modus des bewußten Fühlens
ift nach den D.Tchen Prinzipien das Attribut des Denkens,
ift die Seelenlubftanz lelbft gegeben. Diele „Tierleele"
aber hat D. des wiederholten abgelehnt. Allo werden
durch die mechanifchen Reize unmittelbar die Reflexhand-
iungen der Tiere ausgelöft, ohne dag an irgend einem
Punkte dieles mechanifch-kaulal verlaufenden Prozetles
das Bewugtlein dazwifchen trete oder dielen Prozeß be-
gleitete. Auch in der organifchen Tierwelt beruht wie in
der rein körperlichen alles Gefchehen allein auf Aus-
dehnung und Bewegung und ift einer rein mechanifdien
einheitlichen Ableitung und Erklärung zugängig.
3. Orientierung in der sekundären Literatur.
Vorläufiges Ergebnis.
In der Tat ! Das war die Auffallung der Zeitgenoiten
des D., und in dielem Sinne eines konlequenten extremen
Automatismus werden auch heute noch leine Äugerungen
im Discours aufgefaßt. Wir übergehen hier die bezüglichen
Auffallungen unlerer philolophifdien und philolophiege-
fchichtlicben Handbücher wie Falckenberg (86), Paullen
(161), Ueberweg-Heinze (97) u. a., die unlere Frage
naturgemäg nur ftreifen können und halten kurz Umfchau
in der Spezialliteratur, von der man doch die gründlichite
Prüfung erwarten darf. Loewe (285) z. B. erwähnt im
obigen Sinne „das bis zum Überflug behauptete Auto-
matentum der Tiere" und weilt darauf hin (294), dag
Cicero Tusc. quaest LI., Augultinus de quant. An.
c. 30, Gomez Pereira in leiner Antoniana Margarita
Digitized by
Google
- 61 -
das Gleiche fchon früher behauptet haben. Lud ewig (71>
folgert: „Da alfo Cartefius einerfeits ein senütives und
vegatives Prinzip im Menfchen nicht zulieg, und anderer-
seits die Natur der vernünftigen Seele allein in die Denk-
tätigkeit verfemte, fo blieb ihm nichts anderes übrig, als
den Leib und ebenfo die Tier- und Pflanzenwelt für eine
mehr oder minder kunftvolle Mafchine zu erklären." Lange
nennt die mechaniftifdie Erklärung des Seelenlebens im Tiere
die „große Blöge" in der Philolophie D.' und nach Bark
(63) folgt der fpezififche Unterfdiied zwifchen Menfchen und
Tieren aus den D.fdien Prinzipien: „Doch ift fleher unfer
Philofoph in der Erklärung der Empfindungen fich fo
wenig gleichgeblieben, dag wir fchlieglich zu der Über-
zeugung kommen, dag lieh ein qualitativer Unterfchied
zwifchen Menfch und Tier in der Weife, wie D. ihn auf-
fagte, nicht aufrecht erhalten lägt." Auch neuere hul-
digen der extremen Anficht. So fagt Lippmann: „Be-
züglich der Betrachtung der Tiere als bloger belebter Ma-
fchinen, als lebendiger Automaten gewährt fchon der ein-
fache Hinweis auf den begangenen Fehler volle Einficht
in deffen Gröge." Ihm folgt Lewkowig (46): „D. war
konfequent genug, den Tieren jedes feelifihe Leben ab-
zufprechen und fie zu Automaten zu degradieren." Auch
Chriftianfen meint unter Polemik gegen v. Berger,
D. habe „unzweideutig" den Automatismus der Tiere ge-
lehrt (27) und noch jüngft ftellte R. Eisler (Leib und
Seele, Leipzig 1906, S. 7) unter Berufung auf Princ. phil.
I, 8,53; Med. VI; Pass. I, 80 ff. als D.' Anficht hin: „Die
Tiere gar find organifdie Automaten ohne Seele, ohne
Bewugtfein."
Und doch rari nantes in gurgite vasto! Zweifel
äugert P. J. Mob i us in der kurz vor feinem Tode ver-
öffentlichten Schrift: Die Hoffnungslofigkeit aller Pfycho-
logie, Halle a. S. 1907: „Man hat, glaube ich, dem D.
Unrecht getan, wenn man ihm nachfagte, er habe in dea
Digitized by
Google
- 62 -
Tieren fchlechthin nur Mafdiinen gefehen und ihnen die
Seele Idilechtweg abgefprochen (17). Hätte D. die Tiere
in unferem Sinne Mafdiinen genannt, fo wäre er einfach
ein Narr gewefen (19)." D. habe lieh „im Eifer der Be-
weisführung zu allzu groben Ausdrücken verlocken laffen",
jene „kindifche Übertreibung" habe ihm fern gelegen, fei
ein „Migverftändnis". Möbius ift jedoch feiner Sache
nicht ficher, wie feine Abfchwädiungen „fcheint mir,
glaube ich" dartun. Ein ftringenter Beweis kann ja auch
nicht durch ein allgemein gehaltenes Raifonnement, fon-
dern nur durch die Spezialforfdiung erbracht werden.
Gründlicher verfuhr v. Berger, der fchon 1892 in
einer eigenen Abhandlung einen Verfuch machte gegen
die opinio communis Stellung zu nehmen. Er glaubt,
dag die Frage: „Hielt D. die Tiere für bewugt-
los?" fleh nicht vollkommen löfen lägt. D. habe fich die-
felbe nirgends in feinen Schriften klar und [deutlich ge-
ftellt (7), und es habe ihm am geratenften gefchienen, die
ganze Sache aus dogmatifihen Gründen in Schwebe zu
laffen (14): Trofedem könne D.' Anfleht nicht zweifelhaft
fein: „Man braucht nur auf die wüften ethifihen Folge-
rungen hinzuhören, mit welchen heute die Pöbelphilo-
fophie als mit angeblichen Konfequenzen aus Theorien,
welche das Tier und den Menfchen als Verwandte be-
trachten, den Markt überfihwemmt. Dummer Menfihen-
dünkel gegenüber dem Tier lag ihm fo ferne, als der ge-
meine Adelshochmut echten Ariftokraten liegt." Auf Grund
verfihiedener Kombinationen glaubt er die Frage auf-
werfen zu dürfen (7): „Hielt D. ein vernunftlofes Be-
wugtfein für etwas Undenkbares ? War er diefer Meinung,
dann folgte aus feiner Überzeugung von der Vernunft-
lofigkeit der Tiere mit ftrenger Notwendigkeit die
Überzeugung von ihrer B ewugtlof igkeit . . . Ver-
nunftlofes Bewugtfein wäre etwas Undenkbares, wenn
Vernunft und Bewugtfein nur zwei Namen für ein und
/Google
/
Digitized by Vjv^v>^i.v~ j
i
- 63 -
daslelbe Ding wären. Diele Meinung D. zuzu-
muten, geht entfchieden nicht an. a Audi das ift
ihm noch zweifelhaft, ob D. die cogitatio passiva (ich
gewahre, dag die Seele z. B. will) als eine Tätigkeit der
Vernunft gegolten habe (8), ja er behauptet geradezu,
das innere Gewahren eines pfychifihen Phänomens fei
nach D. keine Leiftung der Vernunft (9) und D. habe
den Unterfihied zwifdien „Denken an einen pfychifihen
Akt" und „unmittelbares Bewußtfein von einem pfychi-
fihen Akt" fleh nicht zum Bewußtfein gebracht (ibid.).
Ferner verweift er S. 15 auf Dubois-Reymond,
der das Wefentliche des Pfydiifdien erft an den hö-
heren Seelentätigkeiten, nicht fdion bei der einfadiften
Empfindung bemerkt habe, ein Zugeftändnis, das dazu
dienen könne, die Denkweife D.' zu erläutern (!). —
Alle diefe Aufteilungen zeugen von einem nur oberfläch-
lichen Eindringen in den Geilt der D.fthen Philofophie,
denn darüber kann nach dem Vorftehenden durchaus kein
Zweifel obwalten, daß bei D. cogitare = Bewußtfein, die
cog. passiva ein modus cogitandi ift und er fogar fihon
die Termini cog. reflexiva und directa für obigen Unter-
fihied geprägt hat. Und fo kann es denn nicht Wunder
nehmen, daß die'v. Berge rfihe Abhandlung, die neben-
bei bemerkt, ohne jede Benutzung von Briefftellen ge-
fihrieben ift, in der ganzen D.-Literatur, foweit wir we-
nigftens fehen, keine beipflichtende Stimme gefunden hat,
troß mancher gefunden Bemerkung, die der Jurift, Edel-
mann und Jäger uns bietet.
Wir find der Überzeugung, niemand würde uns der
Leichtfertigkeit zeihen, wenn wir nunmehr, wo wir in der
Lage find, unfer aus den Jahren 30 -45 gefammeltes Ma-
terial von der hohen Warte des Gefamtbegriffes cogitare
zu überblicken, uns der herrfchenden Meinung anfchlöffen
und ebenfalls erklärten: Die Tiere D.' find bewußtlos.
Denn dass D. den von v. Berger angedeuteten Weg in
Digitized by
Google
— 64 —
leinen noch ausftehenden Briefen der lefeten Lebensjahre
zur Konftruktion des tierifdien bewugten Innenlebens ein-
fchlagen wird, ift vollftändig ausgefchloffen (cf. Keugen
49). Aber nein! Wir zaudern, diefe Erklärung abzugeben,
nicht fo lehr aus dem inftinktiven Gefühle heraus, der
Dogmatiker D. könne unmöglich unter Nichtbeachtung des
elementarften empirifdien Materials lo — konfequent ge-
welen lein, den Tieren das Bewugtfein zu rauben, ein
Gefühl, das v. Berger trofe feines fehlgefchlagenen Ver-
hiebes durch die Wärme, womit er D. zu retten fuchte,
nur noch gefteigert hat, als vielmehr aus der durchfdila-
genden Erwägung heraus: Weshalb hat denn D. felbft
nicht bis zum Jahre 1645 — foweit haben wir leine Briefe
bis jetjt verfolgt — klipp und klar getagt: Die Tiere find
bewugt los? Und wenn er, der E r denker des Syftemes,
nidit einmal feinem vertrauten Freunde Merfenne
gegenüber diele Konfequenz von feinem phyfiologifchen
Standpunkt aus gezogen hat, weshalb follten wir, feine
Na ch denker, es tun? Und ferner! Weshalb fagt D.
immer wieder bis zum Ermüden bruta non sentiunt sicut
n o s , non imaginantur sicut n o s , non cogitant sicut
nos? Sollte vielleicht diefem ominöfen refrainartigen
sicut nos noch ein anderer als der befprodiene, ein tie-
ferer Sinn unterliegen? Noch hat fich D. den Weg nicht
verfperrt, noch hat er an keiner Stelle den Tieren
das Bewugtfein überhaupt, fondern immer nur das menfeh-
liche Bewugtfein abgefprochen, noch kann er auf feiner
phyfiologifchen Grundlage vielleicht weiterbauen. Doch ob
und wie? Das find die Fragen, deren Beantwortung wir
aus den Briefen der lefeten Lebensjahre D.' erhoffen.
Vorläufig wollen wir uns befcheiden angefichts des
Wortes, das er fogar Merfenne zuruft (III, 544): „Ich
fehe, dag man fich leicht irrt, wenn man Dinge
berührt, die ich gefchrieben habe. Denn da die
Wahrheit unteilbar ift, fo wird fie durch das
Digitized by
Google
— 65 —
Geringlte gefälldit, das man von ihr wegnimmt
oder ihr hinzufügt." °
IV. Die Fortbildung der Lehre D.' nach
Winter 1645/46.
1. Die tiefere systematische Begründung des Funda-
niental unter schied es zwischen Mensch und Tier; die
Zertrümmerung der Vulgärpsychologie (1646).
Obgleich D. fdion vor 1630 an feinem traite des ani-
maux arbeitete (IV, 326, Z. 5 und I, 254, Z. 5), fo hatte
er fleh doch noch nicht vor 1645 ex professo mit pfycho-
logifdien Fragen befchäftigt. Elifabeth von der Pfalz
regt ihn in ihrem Briefe vom 28. Oktober 1645 dazu an
(IV, 322, Z. 18 ff.), und fdion am 3. November desfelben
Jahres fihreibt D., dag er ihrem Wunfche gefolgt fei (IV,
332, Z. 6 ff.), leine Anflehten fleh aber noch nicht genügend
geklärt hätten. Winter 45/46 entftand dann der Tr. des
pass. im erften Entwurf (IV, 442, Z. 13), und im Früh-
jahr 1646 überreichte er Elifabeth das Manufkript zur
Korrektur (IV, 404), estant une matiere que je n'auois
iamais cy-deuaut etudiee, et dont je n'ay fait que tirer
le premier crayon (IV, 407). Da 1646 auch noch der
tract. de hom. entftand, fo fteht zu erwarten, dag diefe
intenflve Befihäftigung mit pfychologifchen Fragen auch
der Ordnung und inneren Begründung feiner Anfichten
über die tierifchen Lebenserfcheinungen zu gute gekom-
men ift.
Wir fehen uns in diefer Erwartung nicht getäufcht.
Die Jahre 1646 und 1649 fchenken uns zwei Äugerungen
D.', die unfer grögtes Intereffe beanfpruchen und die wir
ihrer Wichtigkeit wegen wörtlich wiedergeben.
5
Digitized by
Google
— 66 —
Der erfte Brief vom 23. November 1646 ift an den
Marquis de Newcastle gerichtet. Er zerfällt in zwei
von D. felbft durch Abfäfee kenntlich gemachte Teile. Der
erfte negative Teil (IV, 573,2—575,20) führt zwei Gründe
gegen die Annahme des Denkens oder einer vernünftigen
Seele in den Tieren an:
„Betreffs des Denkens oder der Vernunftfeele, wie fie
Montagne und einige andere den Tieren zufchreiben,
kann ich nicht Ihrer Meinung fein. Ich ftüfee mich dabei
nicht darauf, dag die Menßhen eine unumfchränkte Herr-
fihaft über die anderen lebenden Welen haben; denn ich
geftehe, dag es ftärkere unter ihnen als wir gibt und
möglicherweile folche, die mit ihren natürlichen Liften die
fihlauften Menfchen zu täufchen imftande find. Aber ich iehe:
1. Dag fie nur in den Handlungen uns nachahmen
oder übertreffen, die nicht durch unlere Seele bewirkt
find. Denn a) es kommt häufig vor, dag wir gehen und
effen, ohne irgendwie daran zu denken, was wir tun.
Und ähnlich wehren wir auch, ohne unlere Vernunft zu
gebrauchen, die uns fchädlichen Dinge ab, wehren Schläge
ab, die man uns gibt, und würden uns auch nicht hindern
können, wenn wir zufällig fallen, die Hände vor unferen
Kopf zu legen, obwohl wir es nicht ausdrücklich wollen.
Ich glaube ebenfo, dag wir gehen würden wie die Tiere,
ohne es gelernt zu haben, wenn wir keine Seele hätten;
und man lagt, dag die, welche im Schlafe gehen, einige
Male Flüffe durchfchwommen hätten, worin lie beim Er-
wachen ertrunken wären, b) Betreff der Bewegungen un-
terer Leidenfchaften, ift es, obwohl lie in uns vom be-
wugten Denken begleitet werden, nichtsdeftoweniger
augenfcheinlich, dag fie nicht von ihm abhängen, weil
fie lieh oft gegen unferen Willen einftellen, und dag fie
folglich in den Tieren fein können, ja fogar heftiger als
in den Menfchen, ohne dag man deshalb fchliegen könnte,
fie hätten Gedanken.
Digitized by
Google
— 67 —
2. Dag endlich unfer Körper keine bloge Reflexma-
fdiine ift, fondern dag in ihm auch noch eine Seele ift, die
Gedanken hat, von dielen beiden Tatfachen vermögen
den Pfydiologen unter allen äugeren Handlungen nur die
Worte oder andere Zeichen zu überzeugen, die den lieh
darbietenden Gegenftänden angemeffen lind, ohne lieh auf
eine Leidenfchaft zu beziehen. Ich läge a) Worte oder
andere Zeichen, weil die Stummen in derielben Art der
Zeichen wie wir uns der Stimme bedienen; b) dag k diefe
Zeichen angemeffen feien, um das Sprechen der Papageien
auszufliegen, ohne jedoch auszufchliegen das der Narren;
denn diefes hört nicht auf, den fich darbietenden Gegen-
ftänden angemeffen zu fein, obwohl es nicht der Vernunft
folgt, und ich füge hinzu, c) dag dtefe Worte fich nicht
auf eine Leidenlchaft beziehen dürfen, um nicht nur die
Schreie der Freude und Traurigkeit und ähnliche, fondern
ebenfo alles auszufchliegen, was den Tieren durch Dreffur
beigebracht werden kann. Denn wenn man einer Elfter
beibringt, ihrer Herrin, fobald fie ihrer anfichtig wird,
guten Tag zu fagen, fo kann dies nur dadurch gefchehen,
dag das Ausfprechen diefes Wortes die Bewegung einer
ihrer Leidenfchaften wird, z. B. eine Bewegung des Ver-
langens nach Speife, wenn man ihr angewöhnt hat, ihr
eine Näfcherei zu geben, fobald fie es fpricht. Und ähn-
lich find alle Kunftftücke, die man den Hunden, Pferden
und Affen beibringen kann, nur Bewegungen ihrer Furcht,
Hoffnung oder Freude, dergeftalt, dag fie fie ohne irgend
einen Gedanken ausführen können. Alfo ift es, fcheint
mir, fehr bemerkenswert, dag die Sprache, wenn fie fo
definiert wird, nur dem Menfchen allein zukommt. Denn
obwohl Montagne und Charron gefagt haben, dag es
einen noch grögeren Unterschied gäbe zwifchen Menfch und
Menfch, als zwifchen Menfch und Tier, fo ift gleichwohl
noch niemals ein fo vollkommenes Tier gefunden, dag fich
in irgend einem Punkte anderen Tieren hätte verftänd-
5*
Digitized by
Google
— 68 —
lieh machen können ohne ein Zeichen, das nicht in Bezie-
hung zu leinen Leidenfchaften geftanden hätte. Anderer-
feits gibt es keinen fo unvollkommenen Menfchen, der
das nicht könnte, derart, dag felbft Taubftumme befondere
Zeichen erfinden, wodurch fie ihre Gedanken ausdrücken.
Dies ift m. E. ein fehr ftarkes Argument, um zu be-
weifen, dag die Urfache des Mangels einer eigentlichen
Sprache bei den Tieren in dem Mangel einer Seele, und
nicht in dem Mangel von Organen zu fuchen ift. Und man
kann nicht einwenden, fie fprächen untereinander, wir ver-
ftänden lie nur nicht. Denn wie die Hunde und die an-
deren Tiere uns ihre Leidenfchaften ausdrücken, lo würden
£ie ebenfogut uns auch ihre Gedanken ausdrücken können,
aber fie haben keine." *)
Es lägt fleh nicht verkennen, dag diefe D.fchen Aus-
führungen die der früheren Jahre insbefondere die pa-
rallelen des Discours durch ihre ftraff logifch f ortfdireitende
Gedankenfolge und Fülle des empirifihen Beweismateriales
weit hinter fleh laffen. Die Charakteriflerung der Hand-
lungen, die gleichiam automatenhaft verrichtet werden,
d. h. ohne dag die hierzu erforderlichen Bewegungsvor-
ftellungen zu unleren Ichvorftellungen in Beziehung treten,
*) Frappierend wirkt die inhaltliche und manchmal sozusagen
wörtliche Übereinstimmung mit neueren Denkern, cf. W u n d t (Vor-
lesungen über die Menschen- und Tierseele 1892, I a , 294): „Wir wür-
den schon aus dem Fehlen des äusseren Merkmals der Sprache allen
Grund haben zu schliessen, dass dem Tiere die geistigen Funktionen
fehlen, zu denen dieses Merkmal gehört. Ist es doch kein physisches
Hindernis, wie zuweilen geglaubt wurde, welches dem Tiere die
Sprache versagt. Die Artikulationsfähigkeit der Sprachorgane würde
bei vielen Tieren gross genug sein, um dem Gedanken die äussere
Form zu geben, wenn es nicht eben an Gedanken selber gebräche."
Desgleichen Was mann, Biol. Centralbl. 1895,624: „Hätten die
Tiere ein wirkliches Abstraktionsvermögen, so hätten sie auch schon
längst eine eigentliche Sprache; daraus, dass sie letztere entbehren,,
schliesse ich somit, dass sie auch keine Intelligenz im eigentlichen
Sinne haben."
Digitized by
Google
— 69 —
ilt lo fdiarf, dag nur die moderne Bezeichnung des
„Unterbewugtfeins" für dieles unbewußte pfychifche Ge-
fihehen fehlt. Gerade die von D. mit aller Präziflon an-
geführten Tatfachen, dag im Unterbewugtfein auch kom-
plizierte Vorftellungsaffoziationen vor fleh gehen, laffen
ihn die Behauptung ausfprechen: alfo können die tie-
rifchen Lebenserfcheinungen ohne eine bewugt denkende
Seele erklärt werden, der er dann unter Hinweis auf das
Fehlen einer Sprache im eigentlichen Sinne bei den Tieren
die zweite Behauptung hinzufügt: alfo muffen fle ohne
Seele erklärt werden.
2. Die positive Fortbildung der Lehre D/:
Das tierische Bewusstsein (1646).
Noch viel mehr tritt die Fortbildung der Anflehten
D.' hervor im zweiten Teile feines Briefes:
„Ich weig wohl, dag die Tiere viele Dinge beffer machen
als wir, aber ich wundere mich nicht darüber; denn gerade
das dient zum Beweife, dag fie von Natur und durch
Triebfedern handeln, wie eine Uhr, die uns beffer die
richtige Zeit anzeigt, als unfer Verftand fle uns lehrt. Un-
zweifelhaft handeln die Schwalben darin, dag fle im Früh-
ling kommen, wie Uhren. Alles, was die Bienen zu Honig
machen, gehört eben dahin, und die Ordnung, die die
Kraniche im Fluge innehalten, und die die Affen in ihren
Kämpfen beobachten — vorausgefegt die Wahrheit der-
artiger Erzählungen; und der Inftinkt, ihre Toten zu be-
ftatten, ift nicht befremdlicher, als der der Hunde und
Kagen, welche die Erde aufkragen, um ihre Exkremente
zu verfcharren, obwohl fle fie faft niemals verfcharren.
Dies beweift, dag fie nur auf Inftinkt handeln und ohne
dabei zu denken. Man kann nur fagen: obwohl
die Tiere keine Handlung fegen, die uns ver-
fichert, dag fie denken, fo kann man gleich-
Digitized by
Google
— 70 —
wohl, weil die Organe ihres Körpers von den
unfrigen nicht lehr verldiieden find, mut-
maßen, daß es irgend ein mit dielen Organen
verbundenes Bewugtfein gibt, wie wir es in
uns durch innere Erfahrung feftftellen, ob-
wohl das ihre viel unvollkommener ift. (On peut
seulement dire que, bien que les bestes ne faösent aucune
action qui nous assure qu'elles pensent, toutesfois, &
cause que les organes de leurs cors ne sont pas fort dif-
ferens des nostres, on peut coniecturer qu'il y a
quelque pensee iointe ä ces organes, ainsi que
nous experimentons en nous, bien que la leur soit
beaucoup moins parfajte). Zu dieler Annahme
habe ich nur die eine Bemerkung hinzuzufügen : Wenn fie
dächten wie wir, würden fle ebenfo audi eine unfterb-
liehe Seele haben wie wir; dies ift jedoch nicht wahrfchein-
lieh, weil es keinen Grund gibt, es von einigen anzu-
nehmen, ohne es von allen anzunehmen, und weil es
mehrere zu unvollkommene gibt, wie Auftern, Schwämme,,
um eine foldie Annahme bei diefen gerechtfertigt erfdiei-
nen zu lalfen."
Die wiffenfdiaftliche Analyfe der tierifchen Handlungen
und tierifchen „Sprache", das war der gutgezielte und
wuchtige Doppelfchlag, womit D. im erften Teile unteres
Briefes die Säulen der vulgären Tierplydiologie — um
einen Wundtfdien Ausdruck zu gebrauchen — zerfchmet-
terte und der kritiklofen Vermenfclilidiung des Tieres ein
Ziel fetjte. Den fonnenklaren und apodiktifdi fieberen
Ausführungen diefes eriten Teiles gegenüber befremdet
die Unklarheit und Unficherheit, die im zweiten Teile
herrfcht. Der mit Emphafe behauptete Safe: „Unzweifel-
haft handeln die Schwalben, wenn Iie im Frühling kom-
men, hierin wie die Uhren", wird gleich darauf abge-
fchwächt: „Dies beweift, dag fie nur auf Inftinkt handeln",
was um fo auffallender wirkt, wenn man hiermit III, 213.
Digitized by
Google
- 71 —
zufammenf teilt: „ich kann folche Inklinationen nur in einem
Ding begreifen, das Denken hat, und ich teile iie fogar
den vernunftlolen Tieren nicht zu." Vergegenwärtigen
wir uns vollends, dag nach D.fdien Prinzipien das Be-
wugtfein die beharrende Wefenheit, das Bleibende im
Wedifel der modi des Denkens ilt, dag felblt das dumpfe
Gefühl, die niedrigfte Stufe eines Minimalbewugtfeins dem
cogitare eignet, fo könnte man angelichts der Tatfadie,
dag D. hier — wenn auch in wohlverklaufulierten Sätjen
und in Form einer Hypothefe (on peut coniecturer) den
Tieren quelque pensee moins parfaite zufchreibt, fidi ver-
fucht fühlen, an das quandoque bonus dormitat Homerus
zu denken und unter billiger Konftatierung eines Wider-
Ipruches — des allzeit getreuen Nothelfers — über diele
Stelle zur Tagesordnung hinwegzugehen.
Aus dielen oder ähnlichen Erwägungen heraus fcheint
denn auch, wenigftens foweit wir iehen — die ganze D.-
Literatur über diele Stelle hinweggefchlüpft zu fein; weil
man fidi keinen Vers darauf machen konnte, glaubte man
Iie vornehm ignorieren zu dürfen. Und doch lölen fidi
u. E. vom Gefiditspunkte der* philolophifihen Entwicklung
D.' aus betrachtet, die fcheinbaren Unftimmigkeiten diefes
passus, ja fie laifen uns einen intereffanten Einblick tun
in die Werkftatt des D.fdien Geiftes, der an unferer Stelle
die neuen Ergebniffe feiner empirifchen Forfchungen mit
dem feften Syftem feiner Pfychologie organifdi zu verbin-
den fucht.
Das erfte Anzeichen einer Wandlung oder beffer ge-
tagt einer Entwickelung kann man, wenn man der Kon-
jektur Adams und Tannerys beipflichtet, dag D.' Brief
332 an Buytendijck in das Jahr 1643 zu verlegen ift,
in den Worten D.' finden (IV, 64): Tertia quaestio est de
motu, quem credis me pro anima brutis assignare. Sed
non memini me unquam scripsisse motum esse brutorum
Digitized by
Google
— 72 -
animam. Dieler Ablehnung einer extremen Konfequenz
aus leiner mechaniftifthen Erklärung der tierifdien Lebens-
erfdieinungen — fo wird es B. verstanden haben — fügt
er an: neque meam de hac re sententiam aperui uijd fegt
darauf ausweichend auseinander, dag er mit der heiligen
Schrift das Blut für die Seele der Tiere hält. Angefldits
der Kontroverfe D.' mit Froidmont erfdieint ein Ge-
dächtnisirrtum D.' ausgefchloffen, — hat er diefem doch
unter Berufung ebenfalls auf Deut. 12 dielelbe Antwort
erteilt — und deshalb können diele Worte als ein Selbft-
zeugnis D.' für das Unfertige und Unzulängliche feiner
bisher geäußerten Anflehten aufgefaßt werden. In Anbe-
tracht ferner des Umftandes, dag unmittelbar nach dem
Erfiheinen des Discours die Angriffe feiner Feinde und die
Anfragen und Einwendungen leiner Freunde fleh fortge-
legt auf dielen einen Punkt bezogen: brutum non cogitat,
dürfte die Annahme nicht auf Widerftand flogen, dag auch
D. die Augen darüber aufgegangen find, dag hier die
Achillesferfe feines Syftemes gefudit wurde. Diefe Erkennt-
nis vermochte nun freilich nicht, D. in der felfenfeften
Überzeugung von der Richtigkeit feines Syftems wankend
zu machen, aber die Kritik "der D.fchen Äugerungen aus
den Jahren 37—42 und der objektive Befund des geho-
benen Materiales (f. III, 1) geben der Vermutung Raum,
dag er feine bisherigen Äugerungen einer Nachprüfung
und Ergänzung für bedürftig hielt. Nur aus diefem Ge-
dankengange heraus vermögen wir uns fein neque meam
de hac re sententiam aperui aus dem Jahre 1643 zu er-
klären.
Doch verzichten wir darauf, diefe immerhin unliebere
Andeutung verwerten zu wollen. Unfere Stelle hier, No-
vember 1646 gefchrieben, alfo nach Ausreifung des cogi-
tare Begriffes, nach Inangriffnahme pfychologifcher Studien,
fagt klipp und klar, was wir früher niemals gehört
haben: D. gibt die Möglichkeit des tierifdien B e-
Digitized by
Google
- 73 —
wugtfeins zu. Gewig bedeutet dieles Zugeständnis an
fleh wenig, es !diliegt die Unbewugtheit der tierifchen Le-
benserfcheinungen nicht aus und verfdiafft uns keine Ge-
wigheit; dennoch ift es im Munde D.' von groger Trag-
weite: es bedeutet nicht mehr und minder als die prin-
zipielle Aufgabe der karteflanifdien Reflexmafdiine, ein
Abbiegen von der extremen Reflextheorie.
D. ift fldi der Gefährlichkeit des neuen Schrittes voll
bewugt. Daher fein augenfiheinliches Streben, leine Ge-
danken auf einer Linie zu halten, die in Konlequenz fei-
nes cogitare nicht zum Tiere als Miniaturmenfdien hinführt.
Es gewährt einen eigenen Reiz, D. hier in der Werk-
ftätte feines Geiftes belaufthen zu können. In dem Be-
ftreben, feinen neuen Gedanken eine Form zu geben,
ringt er mit dem Ausdrucke, vermag aber das fpröde
Material der Sprache nicht zu meiftern und leinen Ideen
adäquat zu geftalten. Nach wie vor will er trog der An-
nahme eines tierifihen Bewugtfeins an der mechanifdi-kau-
falen Betraditungsweife fefthalten, und deshalb ftellt er
zwar die Schwalben den Uhren gleich, greift aber un-
mittelbar darauf auf den „Inftinkt" der Schwalbe zurück,
einen Begriff, den er fdion längft in die Rumpelkammer
feiner Tierpfychologie geworfen hatte. Vorfichtig wechfelt
er darauf den Standpunkt. Hat er bisher das Tier als
eine Summe von Nervenbahnen mit Endapparaten be-
trachtet, deren Reizung rein mechanifih die Reflexhand-
lungen auslöft, fo geht er jegt von dielem feinen phyflo-
logifchen zum erkenntnistheoretifihen Standpunkt über.
Diefer Frontwedifel macht es ihm möglich, die abfolute
Gewigheit des Ich bezüglich feines eigenen Bewugtfeins
gegenüber der mittelbaren Gewigheit eines jeden anderen
Bewugtfeins auszufpielen: Des eigenen Bewugtfeins, das
auf rein fubj. Erfahrung beruht (que nous experimentons
en nous), find wir verfldiert (assurer), ein jedes andere
Bewugtfein muffen wir erfchliegen und können es des-
Digitized by
Google
- 74 —
halb nur mutmaßen (coniecturer). l ) Nachdem er lidi fa
den Rücken gedeckt und die Möglichkeit, auf den rein
phyfiologifchen Standpunkt-zurückzutreten, fleh vorbehalten
hat — betont doch auch Ziegler (Theoretifches zur Tier-
pfydiologie und vergleichenden Neurophyflologie, Biol.
Zentralbl. 1900), daß das Bewußtfein auf rein lubjektiver
Erfahrung beruhe und bei den Tieren nicht ohne weiteres
vorausgefefet werden dürfe, da alle Merkfähigkeiten ohne
Bewußtfein vor fleh gehen könnten, und will auch Bethe
nur dort „pfyehifihe Eigenfchaften annehmen, wo wir durch
Tatfachen gezwungen werden" — fucht er unter vor-
fichtiger Anwendung des Analogief chluf f es (ä
cause que les organes de leurs cors ne sont pas fort
differens de nostres) von außen her an die Erscheinungen
des Tierlebens heranzugehen.
Um in Zukunft dem Vorwurfe, das Tierleben „in
ewige Nacht getaucht" zu haben, mit dem Hinweife be-
gegnen können, daß die Bewegungsphänomene des tie-
rifchen Nervenfyftemes auch nach den Prinzipien feiner
Philofophie mit Bewußtfeinsvorgängen verbunden fein
könnten, ift D. in erfter Linie bemüht, eine möglidift hohe
Scheidewand zwifchen tierifchem und menfihlichem Bewußt-
fein aufzuftellen. Deshalb nennt er das tierifche Bewußt-
fein nicht pensee fchlechthin, fonder abfihwächend „quelque"
pensee, pensee „beaueoup moins parfaite" und zwar nicht
ejusdem generis, denn er fügt, um trotj vorhandener
wefentlicher Übereinftimmung der Organe mit den
*) v. B e r g e r (15) schreibt : W D. lässt unerwähnt, dassdie fremde
Seele nicht Gegenstand der eigenen inneren Erfahrung ist, dass ich
auf ihr Dasein schliesse und daher das est nicht mit metaphysischer
Gewissheit weiss, wie das sum. Aber unwillkürlich liess er die
Evidenz des unmittelbar erkannten sum auch dem erschlossenen est
zugute kommen." Diese Ansicht findet nicht nur in unserer Stelle
explicite ihre Widerlegung, sondern sie widerstreitet auch dem ganzen
Geiste des Systems des D.
Digitized by
Google
— 75 —
menfdilidien (ne sont pas fort diff erens) j e g 1 i dl e*
Gleichwertigkeit des Bewußtfeins abzulehnen,
die Bemerkung hinzu: „Wenn fle dächten wie wir,
würden fle auch eine unfterblidie Seele haben wie wir."
Ja er macht logar den Verfuch, feinem tierifihen Bewußt-
fein ein politives Merkmal beizulegen, indem er e&
iointe ä ces organes nennt. Augenfcheinlich verfteht er
hierunter die innerliche und wefentliche Gebundenheit des
tierifchen Bewugtleins an die Materie, wie aus der kurz,
vorher (IV, 573, Z. 24) gegebenen Charakteriftik des
m e n f ch 1 i ch e n Bewugtleins erhellt , das untere Be-
wegungen zwar begleitet (accompagner), aber ihnen
auch felbftändig gegenüberftehen kann (ils souvent
ne dependent pas d'elle). Freilich genügt dieles Merkmal
zur genauen Beftimmung des D.Ichen Tierbewußtleins
nicht, was in Anbetracht des Umftandes, dag wir es hier
mit den legten kaum bemerkbaren Ausläufern feiner Phi-
lofophie zu tun haben, fowie mit einem Gegenftande, den
wir nach Anficht moderner Forfiher wohl nie erfahren
werden, (Uexküll, Über die Stellung der vergl. Physio-
logie zur Hypothefe der Tierfeele, Biol. Zentralbl. 1900,
499, auch Wasmann in feinem Paderborner Vortrag am
3. III. 1905), nicht weiter verwunderlich erfcheint. Vielleicht
will D. dem Tiere das Selbftbewugtfein im engeren Sinne
oder die Unfterblichkeit damit abftreiten, vielleicht auch,
dag es von innen heraus wirken könne. 1 ) Bei der noch
vorhandenen Unklarheit der Sachlage verzichten wir vor-
läufig auf die immanente Kritik der D.fchen Hypothefe.
l ) Anklänge finden wir bei Fries (N.K. d. V., Heidelberg 1807,.
1*, 270): „Über die reine Rezeptivität, welche dem Tiere allein zu-
kommt, erhebt sich der Mensch in künstlicher Selbstbeobachtung,
welche es ihm ermöglicht, sein eigenes Leben zu wiederholen und
dadurch zur Vorstellung des Ich zu gelangen." Auch bei Paulsen
(Einl. i. d. G. d. Ph., Berlin 1901, 161): „Selbstbewusstsein im eigent-
lichen Sinne hat nur das Ich als geschichtliches Wesen. So etwas
Digitized by
Google
— 76 —
3. Die Unbeweisbarkeit der Bewusstlosigkeit
der Tiere (1649),
Zum legten Male ergreift D. in unlerer Angelegenheit
•das Wort auf Veranlaffung des Engländers Heinrich
Morus. Unbekannt mit der legten Entwicklung des D.
griff dieler die internecina et iugulatrix sententia des
Discours aus dem Jahre 37 an (V, 243 f.) und tadelte, quod
uno quasi ictu Universum ferme animantium genus vita
ausit sensuque spoliare, in marmora et madiinas vertendo.
Er verweift auf die pfydiifdien Fähigkeiten gewiffer Tiere
und legt dann den Finger in die offene Wunde des D.fdien
Syftemes: Sed video plane, quid te huc adegit, vt bruta
pro madiinas habeas: Immortalitatis vtique animarum
nostrarum demonstrandae ratio, quae, cum supponat
corpus nullo modo cogitare posse, concludit, ubicumque
est cogitatio, substantiam ä corpore realiter distinctam
adesse opportere, adeoque immortalem. Vnde sequitur,
bruta, si cogitent, substantias immortales sibi annexas
habere. Sein Rat geht fdilieglidi dahin, D. möge mit
Pythagoras, Plato u. a. lieber den Tieren die Unfterblidi-
keit zufchreiben, als bei feiner mit den Tatfadien unver-
einbaren und bisher unerhörten Theorie verbleiben.
D. holt in feiner Antwort vom 5. Februar 1649 weit
aus und rollt nodht einmal die ganze Frage imZufammen-
hange mit den prinzipiellen Gefiditspunkten feines Syftemes
auf (V, 275 ff.):
„Aber an kein Vorurteil und wir mehr gewöhnt, als
werden wir den Tieren nicht zuschreiben, auch das klügste Tier
könnte seine Lebensgeschichte, nicht erzählen. Ihr Seelenleben wird
•dem ähnlich sein, das wir in uns unterhalb des selbstbewussten
Denkens und Wollens antreffen. Es wird in allmählicher Abstufung
•die Vorstellungsweise immer mehr verschwinden ... bis schliesslich
als Inhalt des Seelenlebens nichts als ein momentanes Triebgefühl
übrig bleibt, das durch die Berührung mit der Umgebung ausge-
löst wird."
Digitized by
Google
— 77 —
an das, wovon wir von Jugend auf überzeugt find, daß
nämlidi die lebenden Tiere dächten. — Kein Grund zwingt
uns freilich zu diefer Annahme, es fei denn, dag wir auf
Grund der Beobachtung, daß fehr viele Glieder der Tiere
in der äußeren Geftalt und den Bewegungen fleh von den
unteren nicht fehr unterfiheiden, und des Glaubens, es fei
nur ein Prinzip jener Bewegungen in uns, nämlich die
Seele, die zugleich den Körper bewegte und dächte, nicht
daran zweifeln, irgend eine lolche Seele (aliqua talis anima)
in ihnen zu finden.
Nachdem ich aber bemerkt hatte, daß zwei verfihie-
dene Prinzipien unterer Bewegungen auseinander zu
halten feien, nämlich 1. ein mechanifches und körperliches,
das nur von der Kraft der Lebensgeifter und der Geftal-
tung der Teile abhängt und körperliche Seele ge-
nannt werden kann und 2. ein unkörperliches,,
nämlich der Geift oder jene Seele, die ich als denkende
Seele definiert habe, da habe ich forgfältiger unterfucht,
ob von dielen beiden Prinzipien die tierifihen Bewe-
gungen veruriacht würden, oder nur von einem. Und weil
ich klar erkannte, daß alle nur von dem Prinzip abhingen,
das körperlich und mechanifch ift, habe ich es als f icher
und bewiefen erachtet, es könne auf keine Weife von uns
bewiefen werden, es fei in den Tieren irgend eine den-
kende Seele. Und ich halte mich nicht bei den Schlau-
heiten und Liften der Hunde und Füchfe auf, noch bei
anderem, was die Tiere aus Hunger, Brunft oder Furcht
tun. Denn dies alles läßt fleh m. E. als allein von der
Geftaltung der Glieder ausgehend erklären."
So fehr D. fleh bemüht, diefe feine Ausführungen un-
verfänglich und denen des Discours gleichförmig zu ge-
ftalten, wovon fein Gegner ausgegangen, fo kann es dem
mit dem Briefe an den Marquis v. Newcastle Ver-
trauten nicht entgehen, daß hier durch gefihickte Gegen-
überftellung zum prineipium incorporeum ein prineipium
Digitized by
Google
— 78 —
plane mechanicum . et corporeum eingefihmuggelt wird, das
tiie Ausführungen des Discours nicht kennen. Und wenn
er auch am Schluife dieles Abfdinittes fleh wieder an-
heifchig macht, alle tierifchen Lebenserfdieinungen a sola
membrorum conformatione profeeta zu erklären, fo ver-
mag er fleh durch diefe Vertufchungspolitik nur vor einem
formellen Widerruf feiner Anflehten aus dem Jahre
1637 zu retten; denn das prineipium, quod a sola spiri-
tuum vi et membrorum conformatione dependet, alfo
nicht damit identifdi ift, und dem er fleh nicht fcheut, den
verfehmten Namen „anima" corporea beizulegen, ift, zu-
mal wenn man es auf dem Hintergrunde des quelque
pensee, moins parfaite, iointe ä ces organes betrachtet,
eine dem Discours fremde, ja widerfprechende
Erfcheinung.
Sollte jemandem diefe Interpretation zu kühn er-
fcheinen, den bitten wir vorurteilslos die nachfolgenden
fein abgewogenen und geradezu programmatifchen Aus-
führungen D.' zu prüfen:
„Obgleich ich es aber für eine ausgemachte Sache
halte, dag nicht bewiefen werden kann, dag irgend ein
(sc. menfehliches) Bewugtfein in den Tieren ift, fo glaube
ich deshalb nicht, es könne bewiefen werden,
dag überhaupt kein Bewugtfein (sc. in ihnen)
vorhanden fei, weil der menfdiliche Verftand ihre
Herzen nicht durchdringt. (Quamvis autem pro demon-
strato habeam, probari nonposse aliquam esse in brutis
cogitationem, non ideo puto posse demonstrari null am
esse, quia mens humana illorum corda non peruadit.)
Aber indem ich prüfe, was in diefer Sache am meiften
wahrfcheinlich (maxime probabile) ift, fehe ich keinen Grund,
der fleh für ein (sc menfehlich bewugtes) Denken der
Tiere ins Feld führen lägt, als den, dag es, weil fie
Augen, Ohren, Zunge und die übrigen Sinnesorgane haben
wie wir (organa sicut nos), wahrfcheinlich (verisimile) ift,
Digitized by
Google
— 79 —
fle empfinden auch wie wir (sentire sicut nos); und daß,
weil in unlerer Weile zu empfinden das (sc. men fehl ich
bewußte) Denken eingefdilolfen iß, auch ihnen ein ähn-
liches (sc. bewußtes) Denken (similem cogitationem)
zuerteilt werden muffe. Da dieler Schluß auf der Hand
liegt, lo hat er den Verftand aller Menfchen von frühefter
Jugend gefangen gehalten. Es gibt aber andere, viel
zahlreichere und ftärkere Gründe, die aber nicht allen fo
zugänglich find, die uns vom Gegenteil völlig überzeugen.
Und unter ihnen behauptet der leinen Plaß, daß es nicht
fo wahrfcheinlich ift (non tarn probabile), daß alle Würmer,
Mücken und die übrigen Tiere mit einer unfter blichen
Seele begabt feien, als daß fle Mafchinen gleich (machinarum
instar) fleh bewegten."
Wir ftehen nicht an, in dielen Worten abermals eine
Verfchiebung der D.fchen Anflehten gegenüber dem Stand-
punkt vom 23. November 1646 zu konftatieren. Damals
vertrat er noch die Bewußtloflgkeit der Tiere wenigftens
als die wahrßheinliehere Anficht, wenngleich er ein tie-
rifihes Bewußtfein als möglich annahm; heute, am 5. Fe-
bruar 1649, lagt er mit dürren Worten: Die Anficht,
die den Tieren jegliches Bewußtfen abfpricht,
ift unbeweisbar! Seine folgenden Ausführungen, auch
die drei Gründe, die wir als bekannt übergehen (V, 277 f.),
wenden fleh nur gegen eine unkritifche, über-
triebene Anwendung des Analogiefihluffes, die weiter
geht, als die Tatfachen es erfordern, und zum Schlüffel
des bewußten menfehlichen Denkens greift, ohne fleh
Rechenfihaft darüber gegeben zu haben, ob das geheim-
nisvolle Schloß des „körperlichen und mechanifihen Prin-
zips, das auch körperliche Seele genannt werden kann,"
fleh mit einem minder kunftvollen Schlüffel öffnen läßt;
fle wenden fleh aber — in faktifiher Übereinftimmung mit
den Worten vom 23. November 1646 — nicht gegen
die Berechtigung des Analogief chluff es als
Digitized by
Google
— 80 —
loldien. Vereinigen wir beide Briefe, fo können wir
lagen: Für D. gibt es jegt drei Möglichkeiten, die tatfäch-
lichen Erfdieinungen des Tierlebens zu erklären: 1. Die
Annahme eines menfihlich bewußten Denkens in den
Tieren: Diele naive, für den gewöhnlichen Mann wahr-
fcheinliche Anficht, verwirft der Denker D. und hat fie
von jeher an verworfen; 2. die Annahme eines rein
mechanifchen Verlaufs der tierifchen Lebensphänomene bei
völliger Bewugtlofigkeit: Diefe Meinung hat D. niemals
ausdrücklich als ficher und bewielen angefehen,
auch nicht 37 — 42, ihr von 46—49 explicite, vorher impli-
cite als wahrfcheinlich zugeneigt, fie 49 explicite als
unbeweisbar abgelehnt; endlich 3. die zwifihen dielen
beiden Extremen per excessum und per defectum liegende
mittlere: Die Annahme eines eigenen tierifihen Bewugt-
feins: fie taucht auf 46 als probabel und es wird mit den
Organen innerlich und wefentlich verknüpft, ift alfo auch
mit deren Funktionen rein mechanifih-kaufal verlaufend
und erklärbar; es erfiheint 49 gegründet in dem rein
mechanifchen, nur von der Gliedergeftaltung abhängigen
Prinzip der körperlichen Seele. Da nun der Kampf gegen
das brutum non cogitat sicut nos der rote Faden in allen
D.fchen Ausführungen ift und das entgegengefegte Extrem
jegt als unbeweisbar gilt, fo bleibt für die dritte Möglich-
keit die Probabilität von 46 nicht nur beliehen, fondern
fie wird — auch wenn D. diefen Schlug nicht expressis
verbis zieht — zur sententia probabilior.
Unter diefem Gefichtswinkel mug auch der Schlug-
paffus unteres Briefes betrachtet werden:
„Die übrigen Gründe, die den Tieren das Denken
abfprechen, übergehe ich der Kürze wegen. Ich möchte
jedoch bemerken, dag ich fpreche über (das menfchliche,
bewugte) Denken, nicht über das Leben oder die Sinnes-
wahrnehmung: Denn das Leben fpreche ich keinem Tiere
ab, da ich es in der blogen Wärme des Herzens beftehend
Digitized by V^OOQlC
— 81 —
annehme; auch leugne idi nicht die Sinnesempfindung, fo-
weit fie vom körperlichen Organe abhängt. Und lo ift
meine Anfleht nicht fo lehr graulam gegen die Tiere als
vielmehr gütig gegen die Menfchen, die nicht dem Pytha-
goräifihen Aberglauben ergeben find, indem fie diefe ja
von dem Verdachte eines Verbrechens freilpricht, fo oft
fie Tiere eilen oder töten."
Der Höhepunkt unferer Kontroverfe ift erreicht oder
vielmehr fchon überfihritten. D., der nach den ein-
gehenden Studien foeben erft den Boden der rein phy-
fiologifihen Unterfuchungsmethode mit ihrer einleitigen
Schlugfolgerung: das Tier ift nichts anderes als eine Re-
flexmafihine, verfallen hatte, der fleh auf Grund des Ana-
logiefchluffes zur Anficht von der Möglichkeit eines tie-
rifchen Bewugtfeins und der Unbeweisbarkeit der Bewußt-
lofigkeit der Tiere durchgerungen hatte, fand in Morus
keinen ebenbürtigen Gegner, der den vorfichtig zurück-
haltenden und feinen Diftinktionen D.' hätte folgen können.
Konftatiert doch Morus von fich felbft, dag er zu dem
Standpunkte D.': ähnliche Wirkungen durch ähnliche Ur-
fachen zu erklären, aber nur infoweit, als dief elben
in den tierifehen Lebenserfcheinungen hervortreten, fich
nicht emporfihwingen kann und nach wie vor in der
kritiklofen Vermenfchlichung des Tieres befangen ift: ab
huiusce enim praeiudicii — sc. quod nobis ab ineunte
aetate persuasit, bruta animantia cogitare — laqueis
sentio me expediri non posse ullo modo (V, 309). Er
giegt die Lauge bitteren Spottes über die verfprochene
mechaniftifihe Erklärung aller Lebenserfcheinungen, indem
er ironifih ausruft V, 310: Laeta sane ac iueunda provin-
cia! und bemüht fich, D. noch weiter auf den Boden der
vergleichenden Pfychologie hinüberzuziehen, indem er an
den zweefanägigen Gebrauch der Sinnesorgane und die
Akkomodationsfähigkeit der Tiere erinnert („Maximum meo
iudicio argumentum est, quod tarn subtiliter sibi prae-
6
Digitized by
Google
— 82 —
caueant et prospiciant), wohin ihm natürlich D., der den
Wert derartiger Schlußfolgerungen sub specie der un-
mittelbaren Gewißheit des eigenen Bewußtfeins kennt,
nicht folgt. Mit der entfcheidenden Stelle: non puto
posse demonstrari, nullam esse in brutis cogitationem
weiß M. gar nichts anzufangen, desgleichen nicht mit
der klaffifihen Unterfuchung der Grade der Probabilität
der verfihiedenen Anflehten, die durch die Schale der
äußeren Erfcheinung zum Prinzip und zur inneren Urfache
der geheimnisvollen tierifihen Lebensvorgänge dringen
follen. Deshalb prallen denn feine fpäteren Einwände (V,
310 f.) ab wie Axthiebe an einem Stahlpanzer.
Auf der anderen Seite muß man jedoch, um Morus
nidit unrecht zu tun, wohl im Auge behalten, daß die
Ausdrucksweife D.' an und für fich, fein Beftreben, fich mit
den im Discours geäußerten Anflehten nicht in Konflikt zu .
bringen, die infolge der noch nicht abgefchloffenen Entwicke-
lung vorhandene Unklarheit im Kopfe D.', endlich die aus
den Wurzelgedanken des Syftems felbft fich ergebende
Notwendigkeit, ein Bewußtfein des Tieres aus der Materie
heraus gleichfam als ihre organifche Funktion zu kon-
ftruieren, das audi nicht die geringfte Ähnlichkeit mit den
niederen Stufen und modis des menfehlichen cogitare haben
durfte, ich fage, daß alles dies wohl geeignet war, Miß-
verftändniffe hervorzurufen und eine erfprießliche Annähe-
rung der beiden Philofophen zu verhindern. Und fo ver-
lief denn die weitere Kontroverfe wie das Hornberger
Schießen, jeder Gegner blieb auf feinem Standpunkt flehen.
Die Nachgefechte entbehren des Intereffes und liefern
nichts Neues (V, 309—311 Morus an D. am 5. März 1649
und V, 344 f. D. an Morus am 15. April 1649).
D.' Entwicklung in der Erklärung der tierifihen Le-
benserfiheinungen hat übrigens, wie zum Schluß bemerkt
fei, ihr Analogon in der Philofophie der Griechen. Sie-
beck führt in feiner Gefchichte der Pfychologie, (Gotha
Digitized by
Google
— 83 —
1880, -I 1 , S. 82—84) des nähereu aus, wie Diogenes von
Apollonia in bewußter Reaktion gegen den Dualismus des
Anaxagoras den alten unreflektierten Hylozoismus in einer
durch neue empirifche Tatfachen geftüßten Fällung wieder
aufgeftellt hat. Den Grund findet er S. 83 darin: „Das
Geiftige hatte fleh neben dem Stoff fihon zu deutlich vor
Augen geftellt; es mußte alfo, auch wenn man auf der
alten Grundlage flehen blieb, ausdrücklich hervorgehoben
und lo mit denselben in ein beftimmtes Verhältnis gefeßt
werden. Freilich kann es dabei nicht etwa im Sinne der
Atomiftik als ein Teil der Materie aufgefaßt, noch auch
mit Anaxagoras überhaupt von derfelben getrennt
werden, denn beides war mit dem Welentlichen jener
alten Auffaffung unverträglich." In einer ähnlichen
Lage befand fldi D. nach 1645/46 fich felbft gegenüber
auf dem Gebiete der T i e r plychologie. Wie er fleh aus
-dem Dilemma herausgezogen, hat unlere Darftellung zu
zeigen gefucht: denfelben Weg hat aber auch Diogenes
von Apollonia, zwifchen dem voüq des Anaxagoras und dem
ionifchen Prinzip vermittelnd nur auf dem Gebiete der
anthropologifdien Plychologie — darin belteht der Unter-
fchied — , eingefchlagen : „Darum wird hier (S i e b e ck 1. c. 83)
dem Anaxagoras zwar eine Konzeffion gemacht, lofern das
Geiftige als weientliche Eigenfchaft des Stoffes von vorn
herein mit diefem zugleich fein foll: alles Körperliche muß
als folches Intelligenz befißen . . . Dagegen wird nun aber
auch, was bisher nicht gefchehen war, ein Wefensunter-
fchied des Geiftes als folchen vom Körperlichen ausdrück-
lich geleugnet und das Denken als eine Funktion betrach-
tet, die dem leßteren von feinem eigenen Wefen aus inne-
wohnt; der fefbftändige fubftantiell gedachte vo£<; des
Anaxagoras wird zu einer dem Körperlichen inhärierenden
•vorjote herabgefeßt." Wir fehen alfo : Diogenes und
D. haben diefelben Motive und diefelbe Me-
thode, D. nur auf einem kleineren pfycholo-
6*
Digitized by
Google
84
gifchen Gebiete. Die fich aufwerfende Frage, ob D..
feinen Vorgänger Diogenes gekannt hat, wird fleh wohl
nicht beantworten laffen; Deraokrit wird öfters, Anaxa-
goras und Diogenes von Apollonia nie von ihm zitiert.
V. Schlussbemerkungen.
Das Ergebnis unterer Unterfuchung ftellen wir nach
dem Vorgange D.' examinando quidnam sit hac de re
maxime probabile (V, 277) in folgender Tabelle zufammen.
D.' Entwicklung in der Frage der Erklärung der
tierischen Lebensvorgänge.
x. Rein physio-
logischer Stand-
punkt
2.Wech-
sel des
Stdpts.
3. Standpunkt der ver-
gleichenden Psychologie
Thesis:
1630 — 1642
1645/46
a) 23. Nov.
1646
b) 5. Februar
1649
1. Brutum prineipium in-
corporeum habet, mentem
sive animam = subst
cog. [brutum cogitat sicut
nos]
2. Brutum nullam cogi-
tationem habet
3. Brutum habet „quelque
pensee moins parfaite
jointe aux organes" sive
prineipium corporeum a
conformatione membro-
rum dependens (= ani-
mam corpoream)
sententia
plane impro-
babilis
sententia
probabilior
sententia
minus pro-
babilis
4. Brutum machinae
instar se movet
6
O
fr
a
bD
bog
JC r u
<L> c
c ü
<u.S2
1-2
CO
c
[sententia pro- j +*
j batylissima | ^
plane im-
probab.
probabilior
probabilis
probabi-
lissima
plane
im probab.
minus proba-
bilis, quia in-
demonstrab.
probabilior
probabi-
lissima
Digitized by
Google
— 85 —
Die allmähliche Abftufung in der Wahrscheinlichkeit
>des Safees 2 Iteht in den einzelnen Etappen des D.fchen
Denkens im kauialen Zufammenhange mit der ituf enweife
auf f teigenden Wahrfcheinlidikeit des Safees 3. Die beiden
extremen Sätje 1 und 4 werden von den Schwankungen
der beiden mittleren nidit berührt, fie find die ruhenden
Pole in der Erfcheinungen Flucht.
Zum Sdiluffe möchten wir die drei Hauptergebniffe
unlerer Unterluchung fdiarf hervortreten laffen.
1. Verdient herausgehoben zu werden, dag die rein
phyflologifdie Unteriuchungsmethode, die D. bis 46 an-
wandte, ihn nicht über die Reflexmafihine hinausführte
und auch nidit hinausführen konnte. Von dem Zeitpunkt
ab, wo er den Analogiefchluß anwendet, den er vorher
ausdrücklich verworfen hat, und fleh auf den Boden der
vergleichenden Pfychologie ftellt, gelingt es ihm, durch die
Schale cjer äußeren Erfcheinung zum Bewugtfein der Tiere
vorzudringen. Nicht das ift die Hauptlache, dag er zu
liefern immerhin kümmerlichen Refultate gekommen ift,
londern darauf ift Gewicht zu legen, dag D. nach den ein-
gehenden phyfiologifchen und pfychologifihen Studien des
Winters 45/46 das Ungenügende und Einfeitige feines
eriten Standpunktes eingefehen hat. Wir flehen nicht an,
in dem Nachweis des Wechfels der Unterfuchungs-
methoden, der Anwendung des Analogiefihluffes, das
wichtigfte Ergebnis der vorliegenden Arbeit zu erblicken.
Eine Parallele mit Wundt und Lloyd Morgan, die
-einen ähnlichen Entwicklungsgang zur mittleren Anfleht
nur vom entgegengefegten Extrem der Vulgärpfychologie
^durchmachten, wollen wir nur andeuten. 1 )
*) Wundts Stellungnahme gegen die Vulgärpsychologie findet
^sich in der 2. Aufl. seiner „Vorlesungen ti. d. Menschen- und Tierseele"
(1892), S. 370 und in der 3. Aufl. (1903), S. 396. Lloyd Morgan hat
rseine dem Denkvermögen wenigstens der höheren Tiere günstige
~ Ansicht von 1894 (1. Aufl. seiner Introduction to comparation psycho-
Digitized by
Google
— 86 —
2. Möchten wir darauf aufmerkfam machen, daß D.,.
auch nachdem er die Möglichkeit des tierifchen Denkens
zugegeben hat, an der überragenden Qualität des menfih-
lichen Denkens feftgehalten hat. Nach wie vor belteht
eine vera differentia zwifchen Menfih und Tier. Das Ver-
mögen des reinen leidenfihaftslofen Denkens, wie es fleh
in der menfehlichen Sprache offenbart, bleibt die unter-
fcheidende Grundeigentümlichkeit des Menfihen. Die An-
nahme eines tierifihen bewußten Denkens verleiht dem
Tiere keine inneren Kräfte, keine inneren differenzierenden
Eigenfihaften; feine qualitative Minderwertigkeit erhebt es
nicht über die übrigen mechanifch ausgelöften körperlichen
Reize. Mit Recht kann v. Berg er im Geilte D.' bei
einem folchen „Denken", einer folchen „anima corporea"
die Frage ftellen (14): „Ift eine Seele ohne Unfterbücb-
keit, ohne Freiheit, ohne Vernunft, ohne die Fähigkeit,
an ihr cogito" — cogitare möchten wir lieber lägen —
„das cogito ergo sum zu knüpfen, überhaupt noch eine
Seele?" Die Worte cogitatio, anima, die er feit 164fr
auch auf das Tier anwendet, dürfen nicht aequivok gefaßt
werden, wie er fie vom Menfihen ausfagt; das hieße ein
willkürliches Spiel mit Worten treiben und ganz vergelten,,
daß bei der Unvollkommenheit der Technik fprachlicher
Daritellung, Gedanken, zumal neu aufkeimende, fidi nie^
ganz wahr wiedergeben laffen.
3. Endlich ift es bezeichnend für die Kühnheit und
zugleich Nüchternheit des D.fchen Denkens, daß es felblt
das tierifche bewußte Denken, mechanifih kaufal er-
klären will. Wie D. in der analytifihen Geometrie zuerft:
das Beftreben gezeigt hat, die qualitativen Uriterfihiede-
^ogy) in der 2. Aufl. (1903), S. 307 offen aufgegeben. Näheres-
hierüber s. Wasmann, Instinkt und Intelligenz im Tierreich, Frei-
burg 1905*, S. 3—5 und 227 f. — Diese Mitteilungen verdanke ich der.-
Güte des Herrn P. E. Wasmann (Luxemburg-Bellevue).
Digitized by
Google
— 87 —
der Raumgebilde durch die Verfchiedenheit rein quanti-
tativer Beltimmungen zwifdien Geraden auszudrücken und
die Bewegungsformen auf Grögenbeziehungen zurückzu-
führen, lo luchte auch er zuerlt den tierißhen Organismus
als Mechanismus und feine Lebenserfcheinungen — ein-
fchlieglich des Bewugtfeins — in exakt und ftreng gefeg-
mägig verlaufenden Bewegungsgrögen zu erf allen. So«
wollte er, was er im Menßhen wegen der Wechfelwirkung
zwifihen den unabhängig von einander exiftierenden Sub-
ftanzen, Körper und Geift, nur bis zu einem gewiffen
Punkte durchführen konnte, die Tierphyfiologie und
-pfychologie in reine Lebensmechanik auflölen, die alle
Lebenserfcheinungen ohne Ausnahme, felbft das Bewugt-
fein, kaufal erklären follte. So beftechend und blendend
der Gedanke auch ift, es fcheint, als ob D. felbft bereits
geahnt hat, ein Erreichen diefes Zieles werde unmöglich
fein, fonft hätte er fich wohl fchon eher mit dem Bewugt-
feinsproblem der Tiere befchäftigt. Dag aber D. ein Jahr
vor feinem Tode, • am legten Punkte der Entwickelung,
foweit wir fle verfolgen können, die Bewugtlofigkeit der
Tiere als unbeweisbar bezeichnet hat, ift die dritte Tat-
fache, die konftatiert werden mug. Sie beweift auf der
einen Seite, dag D. weit davon entfernt war, Naturgefege
a priori nach vorher feftgelegtem Schema zu konftruieren
und dekretieren, dag er feiner extrem-mechaniftifchen
Theorie felbft die Spige abgebrochen hat, und auf der
anderen Seite, dag D. trog der Gröge und Konfequenz
feiner mechanifchen Betrachtungsweife, doch darin einfeitig
gehandelt hat, dag er im erften Siegesraufdie der neuen
Naturerklärung die fubftantialen Formen über Bord
warf. Leibniz hat aus dem richtigen Empfinden der
Einfeitigkeit diefes Verfahrens heraus hier angeknüpft.
Er ift es gewefen, der den von D. bereits begonnenen
Weg fortgefegt und die moderne D.fche Naturbetrachtung
wieder durch ariftotelifche Anfchauungen ergänzt hat.
Digitized by
Google
— 88 —
Mögen auch lonit leine Organismen mit Mafdiinen ver-
glichen werden, dadurch, dag er leine Monaden als un-
entltanden und unveränderlich ausgab, hob er fie aus der
mechanifchen Betrachtungsweife heraus. Auch verfehlte
er nicht, indem er dem Menfchen noch die moralifihe Un-
sterblichkeit vorbehielt, den Tieren die phylilche beizu-
legen. So iuchte er D.fche und fcholaftifche Anfchauungen
miteinander auszulöhnen.
Dem Herrn Geheimen Hof rat Prof elf or Dr. Sieb eck
geltattet lieh Verfaffer audi an diefer Stelle für die An-
regung zum Studium der Briefe D.\ fowie für die gütigen
Winke und Ratlchläge ehrerbietigen herzlichen Dank aus-
sprechen.
Digitized by
Google
Literaturverzeichnis.
Benutzt wurden:
I.
Oeuvres de Descartes publiees par Charles Adam et
Paul Tannery, Tome I-VII, IX, Paris (Cerf) 1897 bis
1904.
IL
Die Handbücher von Falckenberg, K. Fischer, Lange,
Paulsen, Ueberweg-H e inze, Windel band; Wundt,
Vorlesungen über die Menschen- u. Tierseele, Hamburg 1897*;
Was mann, Instinkt und Intelligenz im Tierreich, Frei-
burg i. B. 1897.
III.
Bark, F., D.' Lehre von den Leidenschaften. Diss. Rostock 1892.
Baumann, Joh. Jul., Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik
in der neueren Philosophie, Bd. L Berlin 1868.
v. Berger, Dr. Alfred Frhr., Hielt D. die Tiere für bewusstlos?
(IV. Abh. i. d. Sitzungsber. d. k. Ak. d. Wiss. philos.-hist. Kl.
126. Bd. Wien 1892.
Boutroux, Pierre, Timagination et les mathe"matiques selon D. i. d.
Bibliotheque de la Faculte" des Lettres de l'Universite" de
Paris, t. X. Paris (Alcan) 1900.
Cassirer, E., D/ Kritik der math. u. naturwiss. Erkenntnis. Dissert.
Marburg 1899.
•-—, Das Erkenntnisproblem i. d. Philos. und Wissenschaft d. neueren
Zeit. Berlin 1906.
Christiansen, Broder, Das Urteil bei D. Diss. Freiburg i. B. 1902.
Fischer, L., Cogito ergo sum. Diss. Wiesbaden 1890.
Glogau, G., Darlegung und Kritik des Grundgedankens der carte-
sianischen Metaphysik (Zeitschr. f. Ph. Bd. 73, 1878, S. 209
bis 263).
Grimm, E., D.' Lehre von den angeborenen Ideen. Diss. Jena 1873.
Digitized by
Google
- 90 —
Heinz e, Max, Die Sittenlehre des D. Vortrag. Leipzig 1872.
-v. H e rtlin g, G. Frhr., D.' Beziehungen zur Scholastik (Sitzungsber.
d. k. b. Ak. d. Wiss. zu München 1899, I und II).
— •, 2. Abh. im Arch. f. Gesch. d. Philos. Bd. 17 N. F. 10.
Hoffmann, A., Die Lehre von der Bildung des Universums bei D.
(Arch. f. Gesch. d. Ph. Bd. 17. N. F. 10, S. 237—271 u. 371:
bis 412). Berlin 1904.
*— , R Descartes. Stuttgart 1905. (Hierzu die Kritik im Litt. Zen-
tralblatt vom 3. III. 1906, Nr. 10.)
Jorges, Rudolf, Die Lehre von den Empfindungen bei D. Dissert.
Bonn 1901.
*Keussen, B., Bewusstsein und Erkenntnis bei D. Dissert. Bonn.
Halle 1906.
Koch, A, Die Psychologie des D. München 1881.
Kupka, P., Die Willenstheorie des D. (Archiv, f. Gesch. d. Ph.,
Bd. 10, N. F. 3, S. 29-39).
Lasswitz, Zur Genesis der cartesianischen Corpuscularphysik
(Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. X., 1886, S. 166—189).
Leder, Hermann, Untersuchungen über Augustins Erkenntnistheorie
in ihren Beziehungen zur antiken Skepsis, zu Plotin und zu D.
Diss. Marburg 190 1 .
Lewkowitz, Julius, Spinozas Cogitata methaphysica und ihr Ver-
hältnis zu D. und zur Scholastik. Diss. Breslau 1902.
L o e w e , J. H., Das spekulative System des Ren6 D., seine Vor-
züge und Mängel. (Sitzungsber. d. phil.-hist. Klasse d. K. Ak.
d. Wiss. zu Wien 1885, Bd. 14, S. 238—298.)
Lud ewig, C, Der Substanzbegriff bei Cartesius im Zusammenhang
mit der scholastischen und neueren Philosophie (Philos. Jahr-
buch, Bd. VI, S. 61-72).
.Meincke, A., D.' Beweise vom Dasein Gottes. Dissert. Heidel-
berg 1883.
Mi 11 et, D., sa vie, ses travaux, ses däcouvertes avant 1637. Paris
1867.
— , D. son hist. depuis 1637, sa phil., son röle dans le mouvement
geneYal de Pesprit humain. Paris 1870.
Monchamp, Georges, Historie du Cart£sianisme en Belgique. Bru-
xelles 1886.
Natorp, P., Die Entwicklung D/ von den „Regeln" bis zu den
„Meditationen" (Arch. f. Gesch. d. Ph., Bd. 10, N. F. 3, S. 10
bis 28).
— , D.' Erkenntnistheorie. Marburg 1882.
Djgitized by
Google
— 91 —
Otten, Der Grundgedanke der cartesianischen Philosophie. Frei-
burg i. B. 1896.
^P fa ff, R. F., Die Unterschiede zwischen der Naturphilosophie D.'
u. derj. Gassendis und der Gegensatz der beiden Philosophien
überhaupt. Diss. Leipzig 1905.
Pfeffer, W., Die Entstehung der Philosophie D.' nach seiner Kor-
respondenz» (Arch. f. Gesch. d. Ph., Bd. 16., N. F. 9. 1902.)
Rodrigues, Gustave, L'existence du monde exteneur d'apres D.
These präsentere ä la Faculte* des Lettres de l'Uni versitz de
Paris. Paris 1904 (
Rose, Fritz Otto, Die Lehre von den eingeborenen Ideen bei D. und
Locke. " Diss. Bern 1901.
Sardemann, F., Ursprung und Entwickelung der Lehre vom lumen
divinum, lumen naturale etc. bei D. Diss. Leipzig 1903.
Schaarschmidt, Carl, Des Cartes und Spinoza* Bonn 1850.
Scheel, Otto, in der Theol. Literaturzeitung. Leipzig 1902. Sp. 663.
Schneider, Herrn, Die Stellung Gassendis zu D. Diss. Halle a. S.
1904.
Schwartz, H., D.' Untersuchungen über die Erkenntnis der Aussen-
welt (Ztschr. f. Ph. u. ph. Kr. Bd. 110, S. 105—124).
— , Die Lehre von den Sinnesqualitäten bei D. und Hobbes. Hab.-Schr.
• Halle a. S. 1894.
Seyring, F., Über D.' Urteilslehre (Arch. f. Gesch. d. Ph., Bd. 6,
S. 43-59)-
Stock, O., D/ Grundlegung der Philosophie. Diss. Greifswald 1888.
Thilo, Chr. A., Über die Religionsphilosophie des D. (Ztschr. f. ex.
Philos. III. 1862, S. 121— 182).
Trognitz, Bernhard, Die mathematische Methode im D.schen philos.
System. Rg. Pr. Saalfeld 1887.
Bemerkungen*
Descartes (= D.) wird nur unter Angabe von Band und Seite
obiger Ausgabe (z. B. I, 54), die übrigen Schriftsteller nur mit Na-
mens- und Seitenangabe (z. B. Thilo (180)) zitiert. — Nur einmal an-
gezogene Schriften werden im Texte selbst unter vollem Titel auf-
geführt. Die mit einem * versehenen Autoren konnten erst nach
Fertigstellung der Arbeit eingesehen werden.
Digitized by
Google
Aio c mb5ib | *3
b8909465 1643a
Lebenslauf.
Geboren bin ich, Wilhelm Anton Jofef Meyer,,
katholifiher Konfeffion, am 17. April 1874 zu Menden, Kr.
Herlohn, als Sohn des verstorbenen Kgl. Eifenbahnbeamten
Wilhelm Meyer und feiner Ehefrau, Elifabeth geb. Wiede-
kind. Am 27. Februar 1893 erlangte ich das Reifezeugnis
des Gymnafiums zu Brilon und lag darauf acht Semefter
philofophifthen und theologifthen Studien ob, und zwar je
vier Semefter an der Königlichen Akademie zu Münfter
und an der Bifchöflichen philofophifch-theologifthen Fakul-
tät zu Paderborn.
Die erfte Anftellung erhielt ich am 6. April 1897 als
vicarius trium regum an der Stadtkirche zu Gefeke, Kr.
Lippftadt; zugleich wurde ich von Oftern 1897 ab an der
höheren Stadtfchule dafelbft mit Genehmigung der König-
lichen Regierung zu Arnsberg kommiifarifth als Lehrer
befihäftigt. Am 22. September 1898 erhielt ich von der
Königlichen Prüfungskommiffion des Provinzialfchulkol-
legiums zu Münfter das „Zeugnis der Befähigung als
Rektor an Mittelfihulen oder höheren Mädchenfchulen mit
fremdfprachlichem Unterricht", übernahm darauf am 4. Ok-
tober desfelben Jahres die proviforifihe Leitung der hö-
heren Stadtfchule zu Gefeke, wurde auf Vorfdilag des
Kuratoriums von der Königlichen Regierung zu Arnsberg
am 31. Januar 1899 definitiv als Rektor an* genannter
Schule angeftellt und am 1. April desfelben Jahres von
dem Bifchöflichen Generalvikariate zu Paderborn zum
Kanonikus an der Stifts- und Kollegiatkirche zu Gefeke
ernannt. In diefen beiden Stellungen bin ich bis heute
tätig.
Digitized by
Google
Digimed by
Google
Digitized by
Google